Ruhelos. William Boyd
Punkt geändert hatte.
Princes Street, Edinburgh, ein normaler Wochentag Anfang Juli, der kalte böige Wind trieb regenschwere Wolkenberge vor sich her. Die Edinburgher, Feriengäste, Einkaufende gingen an diesem Morgen ihren Geschäften nach, bevölkerten die Gehsteige und stauten sich an Kreuzungen und Haltestellen. Eva Delektorskaja kam vom St. Andrews Square herunter und bog rechts in die Princes Street ein. Sie lief schnell, zielstrebig, ohne sich umzusehen, aber sie war erfüllt von der Gewissheit, dass mindestens sechs Leute sie beschatteten: zwei vor ihr, die ihr entgegenkamen, und vier hinter ihr, vielleicht auch ein siebenter, ein Irrläufer, der Instruktionen von den anderen empfing, nur um sie zu verwirren.
Sie blieb vor gewissen Schaufenstern stehen und prüfte im Spiegelbild, ob sie jemanden wiedererkannte, ob Leute ihr Gesicht verdeckten, mit dem Hut, einer Zeitung oder einem Reiseführer – aber sie sah nichts Auffälliges. Und wieder die Richtung wechseln: Sie lief über die breite Straße zum Waverley Garden hinüber, huschte zwischen einer Straßenbahn und einem Bierwagen hindurch, rannte zwischen zwei Autos zum Sir-Walter-Scott-Denkmal, hinter dem sie auf dem Absatz kehrtmachte, um dann mit beschleunigtem Schritt in Richtung Carlton Hill zu laufen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, schlüpfte sie ins North British Hotel, und das so flink, dass der Portier keine Zeit hatte, den Hut zu lüften. An der Rezeption verlangte sie ein Zimmer und wurde in den vierten Stock gebracht. Ohne Zögern fragte sie nach den Preisen und nach dem Weg zur Toilette. Draußen, so viel wusste sie, herrschte momentane Verblüffung, aber zumindest einer hatte sicher gesehen, wie sie im Hotel verschwand. Man würde sich absprechen, und binnen fünf Minuten wäre jeder Ausgang bewacht. »Gehen Sie hinaus, wie Sie hineingekommen sind«, sagte Law immer, »das ist der Ausgang, der am wenigsten bewacht wird.« Ein guter Rat – nur dass ihn alle ihre Verfolger ebenfalls kannten.
Wieder in der Lobby, nahm sie ein rotes Kopftuch aus der Tasche und band es um. Sie zog den Mantel aus und hängte ihn über den Arm. Als sich eine Reisegruppe, die den draußen wartenden Omnibus besteigen wollte, an der Drehtür staute, mischte sie sich unter die Leute und fragte einen Mann mit viel Emphase nach dem Weg zur Royal Mile, um dann hinter dem Bus erneut über die Princes Street zu laufen. Langsam schlenderte sie westwärts und blieb immer wieder vor Schaufenstern stehen, um sie als Spiegel zu benutzen. Da war ein Mann mit grüner Jacke – hatte sie den nicht schon auf der anderen Straßenseite gesehen? Er hielt Abstand zu ihr und drehte ihr ab und zu den Rücken zu, um zur Burg hinaufzusehen.
Sie rannte ins Jenners, hinauf in die dritte Etage, durch den Herrenausstatter in Richtung Damenhüte. Die grüne Jacke hatte es bestimmt gesehen und den anderen mitgeteilt, dass sie im Kaufhaus war. Sie betrat die Damentoilette und lief an den Abteilen vorbei bis zum hinteren Ende. Dort befand sich ein Personaleingang, der ihrer Erfahrung nach nie verschlossen war. Sie drehte den Knauf, die Tür gab nach, und sie schlüpfte hindurch.
»Verzeihung, Miss, hier ist kein Durchgang.« Zwei Verkäuferinnen saßen auf einer Bank und rauchten.
»Ich suche Jenny, Jenny Kinloch. Ich bin ihre Schwester. Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben.«
»Hier gibt es keine Jenny Kinloch, Miss.«
»Aber man hat mir gesagt, ich soll in die Personalabteilung gehen.«
Also wurde sie durch Korridore und über Hintertreppen, die nach Linoleum und Bohnerwachs rochen, zur Personalabteilung geführt. Auch dort kannte man keine Jenny Kinloch. Eva sagte, sie müsse telefonieren, vielleicht habe sie irgendetwas falsch verstanden, vielleicht sei es nicht das Jenners, sondern ein anderes Kaufhaus, das Binns. Ungeduldig zeigte man ihr eine Telefonkabine. Sie ging hinein, nahm das Kopftuch ab, löste ihr langes Haar, wendete den Mantel von innen nach außen und verließ das Kaufhaus durch den Personaleingang in der Rose Street. Sie wusste, jetzt hatte sie alle Verfolger abgeschüttelt. Das hatte sie immer geschafft, aber diesmal waren sechs Mann auf sie angesetzt gewesen …
»Eva!« Hinter ihr kam jemand gerannt.
Sie drehte sich um: Es war Romer, ein wenig außer Atem, sein drahtiges Haar zerzaust. Er bremste ab, fuhr sich übers Haar.
»Sehr gut«, sagte er. »Das mit dem roten Kopftuch war ein Meisterstück. Sich mit Absicht auffallend verhalten – großartig!«
Ihre Enttäuschung war wie ein bitterer Geschmack in der Kehle. »Aber wie haben Sie …«
»Ich habe gemogelt. Ich war dicht dran. Immer. Niemand hat es gemerkt.« Jetzt stand er vor ihr. »Ich zeige Ihnen, wie man eine Nah-Beschattung durchführt. Man braucht mehr Requisiten – Brillen, einen falschen Bart.« Er holte einen aus der Tasche, aus der anderen eine flache Tweedmütze. »Aber Sie sind sehr gut, Eva. Hätten mich beinahe abgeschüttelt.« Wieder sein strahlendes Lächeln. »Hat Ihnen das Zimmer im North British nicht gefallen? Aber Ihr Trick im Jenners war raffiniert. Die Damentoilette, nicht schlecht. Nur haben Sie Ärger mit ein paar Verkäuferinnen gekriegt, fürchte ich. Aber ich wusste, dass es dort einen Hinterausgang gibt, sonst wären Sie nicht hineingegangen.«
»Verstehe.«
Er schaute auf die Uhr. »Gehen wir hier rein. Ich habe Lunch bestellt. Sie mögen doch Austern, oder?«
Sie aßen Lunch in einer dekorativ gekachelten Austernbar, die zu einem Restaurant gehörte. Austern, dachte sie, das Symbol unserer Beziehung. Vielleicht hält er Austern für ein Aphrodisiakum und glaubt, mich damit ködern zu können? Beim Gespräch ertappte Eva sich dabei, dass sie ihn so objektiv wie möglich betrachtete und sich vorzustellen versuchte, wie sie ihn gefunden hätte, wären sie einander nicht unter diesen seltsamen und schrecklichen Umständen begegnet – wäre Kolja nicht ermordet worden. Er hatte durchaus etwas Attraktives an sich, stellte sie fest, diese entschiedene, knappe Art und zugleich die Aura des Geheimnisvollen – schließlich war er so etwas wie ein Spion –, dann das Lächeln, das ihn manchmal geradezu verwandelte, und diese unerschütterliche Selbstsicherheit. Sie zwang sich zum Zuhören: Er lobte sie schon wieder. Alle in Lyne seien beeindruckt von ihrem Einsatz, ihren Fähigkeiten.
»Aber wozu soll das alles gut sein?«, platzte sie heraus.
»Ich erkläre Ihnen alles, wenn Sie fertig sind«, sagte er. »Sie kommen nach London zu meiner Einheit, meinem Team.«
»Sie haben eine eigene Einheit?«
»Sagen wir, eine kleine Untergruppe einer beigeordneten Nebenstelle, die lose mit der Zentrale verbunden ist.«
»Und womit befasst sich Ihre Einheit?«
»Das wollte ich Ihnen geben«, überging er ihre Frage und zog einen Umschlag aus seiner Brusttasche, der zwei Pässe enthielt. Sie schlug die Pässe auf: in beiden ihr Foto mit den umschatteten Augen, steif und förmlich, ein wenig unscharf, aber die Namen waren andere. Jetzt hieß sie Marjory Allerdice und Lily Fitzroy.
»Wozu das? Ich dachte, ich heiße Eve Dalton.«
Er klärte sie auf. Alle, die für ihn arbeiteten, die zu seiner Einheit gehörten, erhielten drei Identitäten. Das sei ein Vorzug, eine Vergünstigung, die jeder nach Gutdünken einsetzen könne. Etwa so wie ein extra Fallschirm, sagte er, oder zwei Fluchtautos, die immer in der Nähe parken, für den Fall, dass man sie eines Tages braucht. Manchmal ist das sehr nützlich, sagte er, und wir sparen eine Menge Zeit, wenn Sie die jetzt schon bekommen.
Eva steckte die neuen Pässe in ihre Handtasche, und zum ersten Mal verspürte sie eine schleichende Angst, die ihr den Rücken hinaufkroch. Verfolgungsjagden in Edinburgh mochten ja noch angehen, aber das, womit sich Romers Einheit befasste, war eindeutig mit Gefahren verbunden. Sie ließ ihre Handtasche zuschnappen.
»Sind Sie befugt, mir mehr über Ihre Einheit zu erzählen?«
»O ja. Ein wenig. Sie heißt AAS«, sagte er. »Fast schon ein bisschen peinlich, diese Abkürzung, ich weiß. Aber sie steht für Assekuranz- und Abrechnungsservice.«
»Wie langweilig.«
»Genau.«
Und plötzlich wusste sie, dass sie Romer mochte – seine Art von Cleverness, seine Art, alles zu durchschauen. Er bestellte sich einen Brandy. Eva wollte nichts.
»Ich gebe