Ruhelos. William Boyd

Ruhelos - William  Boyd


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sie schon, solange ich denken konnte. Reg dich nicht auf, sagte ich mir. Nach dem Essen fahre ich mit Jochen zurück, er kann im Garten spielen, wir können in den Parks der Uni spazieren gehen …

      »Du darfst mir nicht böse sein, Ruth.« Sie blickte über die Schulter zu mir auf.

      Ich hörte auf zu schieben und zündete mir eine Zigarette an. »Ich bin dir nicht böse.«

      »O doch, das bist du. Lass mich einfach sehen, wie ich zurechtkomme. Nächsten Samstag ist vielleicht alles wieder in Ordnung.«

      Als wir zurück waren, sagte Jochen mit Grabesstimme: »Vom Rauchen kann man Krebs kriegen.« Ich fuhr ihn an, und wir aßen unsere Mahlzeit in ziemlich angespannter Stimmung mit langen Schweigephasen, die meine Mutter ab und zu mit heiter-banalen Bemerkungen über das Dorf unterbrach. Sie überredete mich zu einem Glas Wein, und ich wurde etwas lockerer. Ich half ihr beim Abwasch und trocknete ab, während sie die Gläser im heißen Wasser spülte. Mutter-Tochter, Tochter-Mutter, sucht die Tochter in der Butter, reimte ich vor mich hin, plötzlich froh, dass Wochenende war, ohne Unterricht, ohne Studenten, und dachte mir, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, einmal ein wenig Zeit mit meinem Sohn zu verbringen. Da sagte meine Mutter etwas Merkwürdiges.

      Sie hielt wieder die Hand über die Augen und blickte zum Wald hinüber.

      »Was ist?«

      »Siehst du jemanden? Ist da jemand im Wald?«

      Ich schaute. »Niemand, den ich sehen würde. Warum?«

      »Mir war, als hätte ich jemanden gesehen.«

      »Wanderer, Spaziergänger – heute ist Samstag, die Sonne scheint.«

      »Na klar: Die Sonne scheint, und die Welt ist in bester Ordnung.«

      Sie ging zur Anrichte, holte das Fernglas, das dort immer lag, und richtete es auf den Wald.

      Ich ignorierte ihren Sarkasmus, machte mich auf die Suche nach Jochen, damit wir losfahren konnten. Demonstrativ setzte sich meine Mutter in den Rollstuhl und fuhr zur Haustür. Jochen erzählte ihr vom Bierfahrer und meinem schamlosen Gebrauch von Schimpfwörtern. Meine Mutter nahm sein Gesicht in die Hände und lächelte ihn liebevoll an.

      »Deine Mutter kann sehr wütend werden, wenn sie will, und dieser Mann war ganz bestimmt sehr dumm«, sagte sie. »Deine Mutter ist eine zornige junge Frau.«

      »Na, vielen Dank auch, Sal«, sagte ich und beugte mich über sie, um sie auf die Stirn zu küssen. »Ich ruf dich heute Abend an.«

      »Tust du mir einen kleinen Gefallen?«, sagte sie, und dann bat sie mich, es in Zukunft zweimal klingeln zu lassen, aufzulegen und neu zu wählen. »Dann weiß ich, dass du’s bist«, erklärte sie. »Mit dem Rollstuhl komm ich nicht so schnell durchs Haus.«

      Jetzt machte ich mir zum ersten Mal wirklich Sorgen. Waren das nicht schon Wahnvorstellungen oder Anzeichen geistiger Zerrüttung? Aber sie sah den Blick in meinen Augen.

      »Ich weiß, was du denkst, Ruth«, sagte sie. »Du liegst falsch, völlig falsch.« Sie erhob sich aus dem Rollstuhl und stand plötzlich hoch aufgereckt und starr da. »Warte einen Augenblick«, sagte sie und stieg die Treppe hinauf.

      »Hast du Granny wieder geärgert?«, fragte Jochen mit leisem Vorwurf.

      »Nein.«

      Meine Mutter kam die Treppe herunter – ohne Anstrengung, wie mir schien – und trug einen dicken gelbbraunen Schnellhefter unter dem Arm. Sie hielt ihn mir hin.

      »Ich möchte, dass du das liest«, sagte sie.

      Ich nahm ihr den Hefter ab. Er schien etliche Dutzend Seiten zu enthalten – verschiedene Papiersorten und Formate. Ich schlug ihn auf. Es gab eine Titelseite: DIE GESCHICHTE DER EVA DELEKTORSKAJA.

      »Eva Delektorskaja«, sagte ich verdutzt. »Wer ist das?«

      »Ich«, erwiderte sie. »Ich bin Eva Delektorskaja.«

      Die Geschichte der Eva Delektorskaja

      Paris 1939

      Zum ersten Mal hatte Eva Delektorskaja den Mann bei der Beerdigung ihres Bruders Kolja gesehen. Auf dem Friedhof stand er ein wenig abseits der Trauergemeinde. Er trug einen Hut – einen alten braunen Schlapphut, was ihr seltsam vorkam. Sie hielt sich an diesem Detail fest: Welche Sorte Mann würde mit einem braunen Schlapphut zur Beerdigung gehen? Was war das für eine Art von Pietät? Und sie hing dem Gedanken weiter nach, um das übermächtige Gefühl der Trauer halbwegs im Zaum zu halten, um nicht vollends die Fassung zu verlieren.

      Aber danach zu Hause, bevor die Trauergäste eintrafen, fing ihr Vater zu schluchzen an, und da konnte auch Eva die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ihr Vater hielt ein gerahmtes Foto von Kolja in den Händen, umklammerte es krampfhaft – wie ein rechteckiges Lenkrad. Eva legte ihm die Hand auf die Schulter, und mit der anderen wischte sie sich schnell die Tränen ab. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Irène, ihre Stiefmutter, kam mit einem klirrenden Tablett herein, darauf eine Karaffe Brandy und ein paar winzige Gläschen, nicht größer als Fingerhüte. Sie setzte es ab und ging in die Küche zurück, um einen Teller mit Zuckermandeln zu holen. Eva beugte sich über ihren Vater und bot ihm ein Glas an.

      »Papa«, sagte sie mit versagender Stimme, »nimm einen kleinen Schluck – hier, siehst du, ich trinke auch etwas.« Sie nippte an ihrem Brandy und spürte das Brennen auf den Lippen.

      Seine dicken Tränen fielen auf das Bild. Er blickte zu ihr auf, zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn.

      »Er war erst vierundzwanzig … vierundzwanzig …«, flüsterte er, als wäre Koljas Alter etwas Unglaubliches, als hätte jemand zu ihm gesagt: Ihr Sohn hat sich in Luft aufgelöst, oder: Ihr Sohn hat Flügel bekommen und ist davongeflogen.

      Irène kam herüber, bog sanft seine Finger auseinander und nahm ihm behutsam das Bild weg.

      »Mange, Serge«, sagte sie, »bois – il faut boire.«

      Sie stellte das Bild auf dem Tischchen ab und begann die kleinen Gläser auf dem Tablett zu füllen. Eva hielt ihrem Vater den Teller mit den Zuckermandeln hin. Achtlos nahm er sich eine Handvoll und ließ ein paar zu Boden fallen. Sie schlürften ihren Brandy, knabberten Mandeln und tauschten Banalitäten aus: wie froh sie waren, dass der Tag trübe und windstill war, dass Sonnenschein unpassend gewesen wäre; wie schön es war, dass Monsieur Dieudonné die weite Reise von Neuilly gewagt hatte, und wie schäbig und geschmacklos, dass die Lussipows mit einem Trockenstrauß gekommen waren. Getrocknete Blumen! Allen Ernstes! Eva schaute immer wieder zum Bild von Kolja hinüber, der in seinem grauen Anzug lächelte, als würde er ihnen amüsiert zuhören, mit einem schelmischen Glitzern in den Augen, bis das Unfassbare des Verlusts, der Affront seiner Abwesenheit, über ihr zusammenschlug wie eine Flutwelle und sie wegschauen musste. Zum Glück klingelte es, und Irène stand auf, um die ersten Gäste zu empfangen. Eva blieb bei ihrem Vater sitzen, hörte, während Mäntel und Hüte abgelegt wurden, das gedämpfte Geräusch taktvoller Worte und sogar ein ersticktes Lachen als Anzeichen jener seltsamen Mischung aus Trauer und unbändiger Erleichterung, welche die Menschen nach einer Beerdigung zu befallen pflegt.

      Als Evas Vater das Lachen hörte, schaute er sie an, schniefte und zog die Schultern hoch, verzagt und hilflos wie ein Mann, dem selbst die einfachsten Antworten entfallen sind, und sie sah, wie alt er plötzlich geworden war.

      »Nur noch du und ich, Eva«, sagte er. Sie wusste, dass er an Marja dachte, seine erste Frau, seine Mascha, ihre Mutter – und an ihren Tod vor vielen Jahren am anderen Ende der Welt. Eva war vierzehn gewesen, Kolja zehn, und zu dritt hatten sie Hand in Hand auf dem Ausländerfriedhof von Tientsin gestanden, umweht von den Blütenblättern der riesigen weißen Glyzinie, die auf der Friedhofsmauer wuchs – wie von Schneeflocken, wie von dickem, weichem Konfetti. »Nur noch wir drei«, hatte er damals gesagt, als sie am Grab der Mutter standen und sich fest bei den Händen hielten.

      »Wer war der Mann mit dem braunen Schlapphut?«, fragte Eva. Er war ihr gerade wieder eingefallen, und sie wollte das Thema wechseln.

      »Ein


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