Die gigantischen Dinge des Lebens. Susin Nielsen

Die gigantischen Dinge des Lebens - Susin Nielsen


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er war, denn er blinzelte unablässig und summte unmelodisch vor sich hin. Fünf Minuten nach Stundenbeginn ließ er seinen Stift fallen. Er hüpfte von seinem Hocker, bückte sich, um ihn aufzuheben –

      Und mit einem rrrattsch riss seine Hose, genau an der Hinternnaht.

      Augenblicklich drehte sich in der Reihe vor uns Tyler um, seine Sinne wie die eines Hais in höchster Alarmbereitschaft; soeben hatte er Blut gerochen und war bereit zuzuschlagen.

      »’tschuldigung«, platzte es aus mir heraus. »Bohnen zum Abendessen.«

      Tyler und ein paar andere sahen mich angeekelt an. »Du bist so abartig, Wichs.«

      Ich zog meinen beigefarbenen Pullover aus und reichte ihn wortlos Alex. Er band ihn sich um die Taille und blinzelte wie irre.

      Nach dem Unterricht holte er mich auf dem Flur ein. »Hey. Danke. Keine Ahnung, wieso du das gemacht hast, aber – danke.« Auch ich war nicht sicher, weshalb ich es getan hatte. Vielleicht hatte ich entschieden, dass ich nichts – keine Würde, keinen Ruf – zu verlieren hatte. »Kann ich dir den Pullover morgen zurückgeben?«

      »Ja, na klar.«

      »Ich bin Alex. Alex Shirazi.« Er lächelte zu mir hoch. »Und ich brauche weitere Hosen!« Dann fing er an zu lachen, hauptsächlich vor Erleichterung, und er lachte noch lange weiter, bis ich schließlich auch lachte.

      Nach der Schule bemerkten wir, dass wir in dieselbe Richtung mussten, also liefen wir zusammen, und es stellte sich heraus, dass wir gerade mal zwei Straßen voneinander entfernt wohnten. Und so fingen wir an, gemeinsam zur Schule und von der Schule nach Hause zu laufen, und ziemlich bald hingen wir auch nach der Schule zusammen herum. Ich erfuhr, dass Alex Fernsehsendungen wie Parts Unknown des verstorbenen Kochs und Autors Anthony Bourdain liebte und andere Kochsendungen wie Salz. Fett. Säure. Hitze. Er kochte die Rezepte gern für seine Eltern nach, und manchmal auch für mich. Wir entdeckten schräge Gemeinsamkeiten; zum Beispiel mögen wir beide Brettspiele (besonders Carcassonne) und größtenteils dieselbe Musik, weil unsere Eltern uns mit ähnlicher Klangkost – Carole King, Feist, Tom Waits, Cat Power und viele andere – großgezogen haben.

      Es war, als würden wir uns schon jahrelang kennen und nicht erst seit ein paar Wochen. Schon bald erzählten wir uns gegenseitig Dinge, die man nur mit jemandem teilt, dem man vertraut. Er berichtete zum Beispiel von seinen Ticks und wie sie sich verschlimmerten, wenn er aufgeregt war (und ich sagte ihm nicht, dass mir das schon aufgefallen war). Er erzählte mir, dass er sich ein Jahr zuvor bei seinen Eltern geoutet hatte und dass sein Dad anfangs bestürzt gewesen, mittlerweile aber sein wichtigster Unterstützer sei; er war sogar bei der Christopher-Street-Day-Parade in Calgary mit Alex mitgelaufen. Ich erzählte ihm von meinem Zeitkapselbrief und den Folgen. Wir schlossen einen Pakt: Alles, was wir einander erzählten, blieb unter uns. Wir erfanden sogar einen raffinierten Handschlag, um ihn zu besiegeln: erst die rechte Hand schütteln, dann die linke, Ellbogengruß auf der rechten Seite, dann auf der linken, gefolgt von einer schnellen Drehung und einer Verbeugung.

      Einmal saßen wir abends in seinem Hobbyraum und Alex spielte mir etwas auf seinem Keyboard vor. »Das war klasse«, sagte ich. »Von wem ist das?«

      »Von mir.«

      »Echt? Ist ja genial.«

      »Danke. Ich wünschte bloß, ich hätte auch Texte dazu. Aber das kann ich nicht gut.«

      Es klingt vielleicht verrückt, aber ich bekam tatsächlich Gänsehaut. Die Einzigen, die meine Gedichte bisher gelesen hatten, waren die Mumps und Sal.

      An dem Abend ließ ich auch Alex etwas von mir lesen.

      Als Erstes vertonte er ein Gedicht mit dem Titel Freier Fall.

      »Du musst singen«, sagte er. »Ich kriege keinen geraden Ton raus.«

      Anfangs weigerte ich mich. Außerhalb der Geborgenheit meines Zuhauses sang ich nie, wirklich niemals laut.

      Doch Alex war hartnäckig. »Na logisch kannst du vor mir singen. Ich bin doch dein Freund.«

      Dein. Freund.

      Also sang ich. Ich war grottenschlecht. Doch das spielte keine Rolle. Uns gefiel einfach der Prozess. Alex vertonte weitere Gedichte von mir, und wenn wir nicht gerade Carcassonne oder 7 Wonders spielten, musizierten wir in der Ungestörtheit seines Kellers vor einem nicht vorhandenen Publikum. »Wir sind wie Elton John und Bernie Taupin«, verkündete Alex eines Abends, nachdem wir Rocketman angeschaut hatten. »Nur dass du hetero bist und ich schwul.«

      Wir hatten einen Riesenspaß. In seinem Hobbyraum mussten wir uns keine Gedanken um die Tylers dieser Welt machen. Sal hatte recht; einen Freund in meinem Alter zu haben, war in so vielerlei Hinsicht großartig. Es machte die Schlangengrube Schule ein bisschen erträglicher.

      Aber wie Mup zu sagen pflegt: »Alles, was so aussieht, als sei es zu gut, um wahr zu sein, ist wahrscheinlich auch zu gut, um wahr zu sein.« Eines Tages Anfang Dezember sah Alex bei der Bandprobe in Fabrizio Bianchis Augen und bingo – sie verknallten sich Hals über Kopf ineinander.

      Ich redete mir ein, dass ich mich für ihn freute.

      Doch ich freute mich überhaupt nicht für mich.

      Alex klappte gerade den Ständer seines Keyboards zusammen, als ich kam. »Wie war dein Wochenende?«, fragte ich.

      »Super! Hab mit Fab rumgehangen. Ich habe ihm Nina Simone vorgespielt. Er hatte noch nie von ihr gehört, kannst du dir das vorstellen?«

      »Wow«, sagte ich. »Lebt der hinterm Mond? Welcher Depp hat denn noch nie von Nina Simone gehört?« Ich versuchte, unbeschwert zu lachen.

      Alex sah mich getroffen an, und obwohl ich größer bin als er, fühlte ich mich plötzlich viel kleiner.

      Fabrizio kam mit seiner Trompete angeschlendert. Er ist breit und untersetzt, hat kurz geschnittenes blondes Haar und einen mutigen Modegeschmack, den die einen cool, die anderen eine verzweifelte Aufmerksamkeitsmasche nennen würden. Sogar heute hatte er unsere hässliche Banduniform durch einen leuchtend orangenen Schal ergänzt. »Hi, Wilbur.« Jedes Mal sagte er meinen Namen auf die gleiche Art und Weise, als hätte er gerade erfahren, dass mein Haustier gestorben war. Prüfend musterte er mich von oben bis unten, ließ meinen beigefarbenen ausgeleierten Pullover unter dem Sakko auf sich wirken und verzog den Mund, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen.

      Er brauchte es nicht auszusprechen; ebenso wie ich ihn für einen bestätigungssüchtigen Narzissten hielt, betrachtete er mich als armseligen Trottel.

      »Hi, Fabrizio. Interessanter Schal.«

      »Das ist ein Plastron«, entgegnete er.

      O bitte.

      »Los geht’s, Leute!«, rief Mr P.

      Wir liefen geschlossen Richtung Tür. Ich hoffte, unbemerkt an einer bestimmten Person vorbei zu kommen. Alex und Fabrizio schafften es unversehrt. Jo Lin mit ihrer Blockflöte auch.

      Ich hatte nicht so viel Glück. »Toll gemacht, Fichs. Der eine Ton, den du gespielt hast … dieser eine, einsame Ton … hat echt alles miteinander verbunden. Reine Magie.«

      Japp. Tyler Kertz spielt ebenfalls in der Band. Es ist so ungerecht. Die Band soll eigentlich ein Zufluchtsort für die Unsportlichen sein; auch wir verdienen eine Oase der Sicherheit. Doch Kertz ist eine dieser unerfreulichen Kreuzungen. Er ist nicht nur in der Schwimm- und der Basketballmannschaft unserer Schule, er spielt auch Saxofon. Und er sieht maßlos gut aus.

      Und was am schlimmsten ist, er tut so, als sei er besser als wir Übrigen, als sollten wir dankbar sein, dass er uns mit seiner Anwesenheit beehrt. Mr P unterstützt das auch noch, weil, na ja, weil Tyler tatsächlich ein guter Saxofonspieler ist. Gleichzeitig ist er aber auch ein permanenter Arsch der untersten Schublade. Oliver, den Fagottspieler, nennt er Öliver, weil seine Haare ein bisschen fettig sind.


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