Unser Haus dem Himmel so nah. Shahla Ujayli

Unser Haus dem Himmel so nah - Shahla Ujayli


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der Wiedergeburt in den Händen. Dieses Gefühl bleibt keinem von uns erspart, nicht einmal denen, die im Leben kein einziges Wort über Politik verloren haben, denn wir alle rechnen ständig damit, dem Geheimdienst in die Fänge zu geraten, und sei es auch nur aufgrund einer Namensverwechslung.

      Als der Bodensteward erklärte, das Gate sei geöffnet, ging ich mit vier anderen zum Schalter der ersten Klasse, um mich dort anzustellen. Dabei passte ich meine Schritte dem gelassenen Gang des Mannes vor mir an. Nachdem unsere Reisepässe kontrolliert worden waren, sah ich sein Gesicht, das erschöpft und resigniert wirkte. Er war vielleicht in den Fünfzigern, mit heller Haut und hellem Haar, mittelgroß und recht schlank. In seinen Bluejeans, dem schwarzen Hemd und den schleifenlosen schwarzen Turnschuhen wirkte er auf ungezwungene und natürliche Weise elegant. Als ich schließlich meinen Platz fand, saß er bereits auf dem Sitz neben meinem.

      Ich war nicht in der Stimmung, mich für irgendjemandes Gesellschaft zu begeistern, denn ich war noch ganz erfüllt von meinen erfolgreichen und schönen Tagen in Tunesien, wo ich all die Menschen getroffen hatte, mit denen ich gerne Zeit verbrachte. Im Süden des Landes, in der Küstenstadt Gabès, hatten wir uns zu dem Kongress »Arabische Jugend und kulturelle Entwicklung« getroffen und an den Abenden viel zusammen gelacht, was ich nach Monaten des Elends, die sich wie Jahre angefühlt hatten, dringend gebraucht hatte. Es war mein erster Kongress, seit ich Syrien wegen der Unruhen und des Krieges verlassen hatte.

      Mein Sitznachbar begrüßte mich höflich, sogar ein wenig freundschaftlich, als würde er mich wiedererkennen und hätte mir etwas zu sagen. Die ruhigen Minuten während der Vorbereitung auf den Start verbrachte jeder von uns noch auf seiner Insel. Dann jedoch war es soweit, ein Augenblick der Anspannung für alle, egal wie oft sie schon geflogen sind, und genau der Moment, der die Menschen einander näherbringt. Er drehte sich zu mir, sah mich zwei- oder dreimal prüfend an und platzte schließlich heraus:

      »Meine Mutter ist heute gestorben, ich bin auf dem Weg zu ihrer Beerdigung.«

      Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, aber man kann ja nicht immer alles tun, was man möchte. Trotzdem hielt ich ihm beinahe während des ganzen Starts die Hand.

      Nachdem ich seine Hand wieder losgelassen hatte, stellte er sich vor: »Nasser al-Amiri, Experte für Klima und Aridität.«

      Hm … was wusste ich über Wetter und Unwetter? Über Geografie war mir nur bekannt, dass Edward Said gesagt haben soll, die Geografie sei unser erster Feind.

      Was mir dennoch half, Zugang zu seiner Welt zu finden, war ein Kongress an der Jordanischen Universität zu Gesundheitswissenschaften, Wirtschaft und Bildung, an dem ich teilgenommen hatte.

      Lebensberater empfehlen immer: »Gib dem Zufall so oft wie möglich eine Chance! Besuche Kongresse, die sonst niemand besucht, lies Bücher, die sonst niemand liest, sprich mit Leuten, mit denen sonst niemand spricht, und vertraue auf das, was das Glück dir bringen mag!« Deshalb hatte ich, während die anderen zu den Vorträgen über Wirtschaft und Bildung strömten, den Klimawandel als Schwerpunkt gewählt. Den ersten Vortrag hielt der indische Professor Mana Sifa Kumar, und ich beschloss, alle seine Referate zu hören, von zehn Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. Äußerst interessant fand ich seine Abhandlung über die kleinen Klimasünden, die wir täglich unbewusst und achtlos begehen, die sich in ihrer Summe aber zu Naturkatastrophen auswachsen. Wir aßen zusammen zu Mittag. und er wunderte sich, dass ich einen Schwerpunkt besuchte, der meinem Fachgebiet auf den ersten Blick so fern lag. Am nächsten Nachmittag holte ich ihn vom Hotel ab und begleitete ihn zu einer Tour durch die Altstadt Ammans und zum römischen Amphitheater. Bei Habiba aßen wir Kunafa und auf dem Balkon des Jafra inmitten der alten Lokale tranken wir unseren Kaffee. Sifa Kumar erklärte mir, der Schlüssel zur Lösung der Klimaprobleme liege im Bereich meines und nicht etwa seines Fachgebiets, in der Kultur nämlich, nicht in der allgemeinen Geografie. Deshalb müsse man die Einstellung der Menschen im Umgang mit Ressourcen verändern und sich ihren Problemen zuwenden, und nicht geheime Botschaften an Wolken, Winde und Wellen senden …

      Vielleicht war dieser Tag voller Geografie ein Probelauf, den mir das Schicksal gegeben hatte, um auf die Begegnung mit Doktor Nasser al-Amiri und seine persönliche Lebensreise vorbereitet zu sein.

      *

      Unser Flugzeug landete schließlich auf dem Queen Alia International Airport in Amman. Während des Transitflugs über Istanbul erfuhr ich, dass Nasser an der University of California in Santa Barbara studiert hatte, dass er von seiner amerikanischen Frau geschieden war und drei Kinder hatte, zwei Söhne, die ebenfalls dort studierten, und eine Tochter, die bei ihrer am Vortag verstorbenen Großmutter in Amman lebte, oder gelebt hatte. Die Großmutter sei eine »Schamiya«, Syrerin, gewesen, erzählte Nasser und verwendete die weibliche Form des bei Palästinensern und Jordaniern für einen Syrer gebräuchlichen Wortes »Schami«. Sie sei aus Aleppo, aus der dort bekannten Familie al-Haffar. Er selbst arbeite zurzeit am Zentrum für die Entwicklung von Trockengebieten in Abu Dhabi. Ich sann über diese Einzelheiten nach und dachte dabei an das Mädchen, Nassers Tochter, die bei ihrer Oma gelebt hatte. Was würde aus ihr werden? Ihre Situation machte mich traurig, doch Nasser riss mich aus meinen Gedanken:

      »Lebst du auch getrennt?«

      Ich war überrascht. Sah man mir das an, oder war etwa ein Wunsch der Vater des Gedankens? Diese Frage war, um auf die Sprache der Geografen zurückzugreifen, maßstabsgetreu. Obwohl sie in ihrem Umfang begrenzt war, verriet sie den tatsächlichen Umfang des Raums, den wir in den Köpfen anderer Menschen einnehmen.

      Wie unter reifen Menschen üblich, die sich und den anderen richtig einschätzen und etwas mehr als eine flüchtige Beziehung erhoffen, stellte auch ich mich mit knappen Worten vor.

      »Djuman Badran, Doktor der Kulturanthropologie aus Syrien, ich lebe in Amman und arbeite zurzeit bei der niederländischen Organisation ›Solidarität‹. Nein, nicht getrennt, sondern noch nie verheiratet. Es ist jetzt übrigens fünf Jahre her, dass ich denselben Verlust erlitten habe wie Sie. Es hat damals sehr wehgetan, überall, doch glauben Sie mir, Doktor Nasser, dieses große Unglück vor ihnen, wird mit der Zeit nach innen wandern und zu einem kleinen pechschwarzen Punkt in ihrem Herzen werden. Er wird zu einem untrennbaren Bestandteil von Ihnen. Sie werden anders schauen, ja sogar anders gehen, Sie können natürlich versuchen, ihn geheim zu halten, aber es bleibt immer ein Zeichen von dem, was Sie erlebt und erlitten haben.«

      An dieser Stelle konnte ich mich gerade noch zügeln und meine Predigt anhalten. Da ich diese Erfahrungen selbst durchlebt hatte, hielt ich es für tröstlich, darüber zu sprechen. Ich hatte Mitleid mit ihm und war trotzdem überrascht, Schmerz so tief zu empfinden und bei der Überwindung so tapfer zu sein. Und spätestens als Nasser mir deutlich machte, dass er mein langes Festhalten seiner Hand nicht für eine oberflächliche Geste hielt, sondern für einen Ausdruck meines Mitgefühls, war ich erleichtert, ihm diese tröstenden Worte gesagt zu haben.

      Bevor wir uns nun jeder für sich einen Weg durch die Reisenden bahnten, fragte mich Nasser nach meiner Telefonnummer. Trotz seiner Trauer war er doch so geistesgegenwärtig! Er tippte die Ziffern in sein Handy und rief sofort durch, sodass seine Nummer auf meinem Display erschien, diese Nummer war alles, was ich in Zukunft brauchen würde. Noch wusste ich nicht, wie abhängig ich von dieser Nummer sein würde, wenn ich erst sehen würde, was das Leben noch für mich bereithielt.

      *

      In den folgenden zehn Tagen stürzte ich mich in meine Arbeit und versuchte, die Teile meines Selbst, die ich durch den Krieg in meinem Land verloren hatte, wiederzugewinnen. Ich vertiefte mich in Informationen und Statistiken und in die Geschichten von vertriebenen, emigrierten und vor den Bomben fliehenden Frauen, zu denen ich vor Monaten noch selbst gehört hatte, während meine Schwestern Djud und Salma immer noch zu Hause waren. Jedes Mal, wenn dieser Gedanke in mir aufblitzte, überfiel mich wieder der Kummer. Ich war nicht hierhergekommen, um jemandem etwas zu geben, sondern, um dem Krieg zu entrinnen. Dort in Aleppo, wo ich eigentlich arbeitete, hatte man inzwischen die Akademiker ins Visier genommen. Mein Bürokollege in der Humanwissenschaftlichen Fakultät, der Historiker Professor Doktor Muhammad, war auf dem Heimweg von der Universität in Bustan al-Qasr von der Kugel eines Scharfschützen getroffen worden. Zwischen all diesen Widersprüchlichkeiten, einerseits dem Gefühl,


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