Unser Haus dem Himmel so nah. Shahla Ujayli

Unser Haus dem Himmel so nah - Shahla Ujayli


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der Organisation im Viertel Hulluk fünfundzwanzig Kilometer weit nach Süden zu transportieren. Dafür kam er nach Hause zurück und nahm dort den Schlüssel des Doktor Baschar zugewiesenen Landrovers an sich, der als Staatseigentum ein grünes Kennzeichen trug. Das garantierte, dass man ihn nicht durchsuchen würde. Fatih stellte die Kisten in den Kofferraum und brachte seine Aufgabe unbehelligt zu Ende. Stunden später gab es einen Angriff auf die Artillerieschule in Aleppo, bei der etwa hundert alawitische Offiziere ihr Leben ließen. Nach diesem Vorfall reiste Fatih in die Türkei aus und begann an der Universität in Istanbul Chemie zu studieren. Er promovierte, heiratete eine Tochter seiner Tante Sumayya und wurde so zum Schwager seiner Cousins, die ihn in die Organisation gedrängt hatten. Später zog er mit seiner Familie weiter nach Saudi-Arabien und lüftete dort das Geheimnis der Mumifizierung, an dem er schon lange geforscht hatte. Eines Tages hatte er eine spezielle chemische Verbindung hergestellt, die er mit nach Hause nahm, damit sie niemand stehlen konnte. Dort goss er sie in eine Dose, in der ursprünglich Fußbodenreiniger gewesen war, und stellte sie kurz auf dem Küchentisch ab. Die Putzfrau, die gerade dabei war, die Böden zu wischen, hielt besagte Flüssigkeit für ein Reinigungsmittel, goss ein wenig davon in den Putzeimer – und ihre Hand wurde plötzlich steif.

      Doch bevor Fatih wegen dieser Erfindung zu Ruhm gelangen konnte, traf Scheich Ammar für ihn ein Arrangement mit der Obrigkeit. Scheich Ammar war weit und breit die einzige Anlaufstelle für alle, die ausgewiesen, auf die Fahndungsliste gesetzt oder zu hohen, möglicherweise bis zur Exekution reichenden Strafen verurteilt worden waren. Nachdem eine im Hinblick auf seine schwere Schuld angemessene Summe bezahlt hatte, war er rehabilitiert und sein Heimatland konnte in der Folge von seinem Wissen profitieren.

      Fatih hatte zwei Söhne, die ich erst Jahre später, als der Familie wieder Ein- und Ausreise gestattet waren, im Haus meines Großvaters kennenlernte. Nachdem sie in Saudi-Arabien den Bachelor gemacht hatten, wollten die beiden Jungen ihr Studium an der Universität Aleppo fortsetzen. Sie sahen befremdlich aus mit ihrem langen, ungekämmten Haar und Gesichtern voller zum großen Teil entzündeter Pickel. Ihre Jeans hatten sie bis zur Brust hochgezogen, sodass sie über den Knöcheln endeten, damit sie, wie meine Großmutter sagte, rein blieben für das Gebet. Vom Leben der Nachbarn hielten sie sich fern. Meine Großmutter bestand jedoch darauf, sie zu allen Gelegenheiten, bei denen gemeinsam gegessen wurde, nämlich im Ramadan und an Festtagen, einzuladen, schließlich waren sie die Enkel ihrer Schwester und noch dazu fremd in der Stadt. Wenn sie dann ins Haus kamen, versteckte ich mich immer oder verließ die Wohnung, denn meine Großmutter meinte, sie sähen Frauen ohne Kopftuch nicht gerne und wollten auch nicht mit Frauen zusammensitzen. Jahre später, im Dezember 2009, lief auf CNN ein Video über ein Trainingslager für al-Qaida-Mitglieder im Jemen. Die Kamera zeigte eine Rundumsicht, war aber auf unendlich eingestellt, sodass ich die Aknenarben im Gesicht des Mannes nicht erkennen konnte, der irgendwo in der Wüste hinter einem Felsen stand und schreiend befahl, die Kalaschnikows abzufeuern. Doch es war ganz bestimmt der jüngere von Fatihs Söhnen, da war kein Irrtum möglich. Er gemahnte mich an all die Überzeugungen über das Leben, die ich nicht teilte. Jedes Mal, wenn ich ihn zufällig unterwegs, in der Universität oder gar bei einem Verwandten meiner Großmutter getroffen hatte, hatte er mich streng und vorwurfsvoll angesehen, sodass ich mich stets gedrängt gefühlt hatte, mein Pflichtbewusstsein gegenüber Gott, der Religion, der Familie und meiner Weiblichkeit unter Beweis zu stellen – die Liste endete eigentlich nie.

      Als Nana Umm Baschar starb, wussten wir nicht, auf wessen Seite sie war, auf Fatihs oder Baschars. Sie hatte um beide geweint, für beide gebetet und einen korrekten Lebenswandel, Erfolg und den Sieg über ihre Feinde für sie erfleht. Zur Zeit meines Studiums, als ich bei meiner Großmutter in Aleppo lebte, bemerkte Nana Umm Baschar die vielen großen Nachschlagwerke auf meinem Schreibtisch und wollte wissen, was dort eigentlich drinstehe. Also las ich ihr zum Spaß eine Seite vor, auf der es um Sexualität ging und lauter verbotene Wörter vorkamen. Sie war zunächst erstaunt, lachte dann aber laut auf und rief:

      »Oh Gott, oh Gott, zeig mal her, steht das wirklich da? Sowas studiert ihr? Und das soll Kultur sein? Muss gute Literatur pornografisch sein?«

      Danach kam sie öfter und fragte mich, ob ich ihr Seite 59 des Buches »Gipfel der Genüsse bei der Schilderung der Weine« in der Ausgabe der Wissenschaftlichen Akademie in Damaskus aufschlagen könne, damit sie den Text mit eigenen Augen nachlesen und sich an ihren Neuentdeckungen ergötzen konnte. Manchmal trug sie schwer am Gewicht der Welt, weil sie von ihren beiden Söhnen getrennt war. Baschar hatte man wegen einer Korruptionsaffäre ins Gefängnis geworfen, und Fatih war wieder in Saudi-Arabien. »Spiel mir einen irakischen Mawwal vor!«, sagte sie dann. Ich schaltete den Kassettenrekorder an, und wir hörten Nazim al-Ghazali eine der Rumiyyat von Abu Firas al-Hamdani singen:

      »Ich sagte, als neben mir eine Taube gurrte – o Nachbarin, fühlst du wie ich …«

      Daraufhin senkte sie den Kopf, brach in Tränen aus und zitterte am ganzen Körper.

      Ein paar Tage vor Nana Umm Baschars Tod wachte meine Großmutter morgens wütend auf. Sie sprach kein Wort und brachte mir nicht einmal eine Tasse Kaffee, wie sonst, ans Bett. Ich fragte sie, was los sei, aber sie schwieg. Als ich jedoch insistierte, weinte sie und sagte, sie habe geträumt, mein Großvater, der bereits seit zehn Jahren tot war, habe sie verlassen und ihre Schwester Umm Baschar geheiratet. Sie war sehr aufgebracht und regelrecht eifersüchtig. Als Nana Umm Baschar zum Kaffeetrinken kam, war der Zorn meiner Großmutter noch nicht verraucht, ihre Augen sprühten Funken. In der Nacht darauf erlitt Nana Umm Baschar einen Schlaganfall, und wenige Tage später starb sie. Großmutter vergoss, genau wie ich, viele Tränen. »Welch ein Glück«, meinte sie dann aber, »dass dein Opa sie geheiratet und mitgenommen hat und nicht mich!«

      *

      Als ich Aleppo verließ, hatte Nadjwan gerade ihren dritten Sohn bekommen. Sie war mit einem Ingenieur für Lebensmitteltechnologie verheiratet. Er war Teilhaber einer Konservenfabrik an der Straße nach Kafr Hamrah, die weiter bis zur Stadt Azaz an der türkischen Grenze führte. Im Januar 2012, nachdem die Angriffe der bewaffneten Gruppierungen auf das nördliche Umland von Aleppo sich zugespitzt hatten, wurde die Fabrik überfallen, in ihre Einzelteile zerlegt und in die Türkei transportiert, um dort zum Schrottpreis verkauft oder von sogenannten Fabrikpiraten wieder zusammengesetzt zu werden. Das gleiche Schicksal ereilte dutzende Fabriken, und wie einige Medien berichteten, arbeiteten manche Geschäftsleute aus Aleppo mit diesen Gruppierungen zusammen und forderten sie von sich aus auf, ihre Werke zu zerlegen, damit sie sie in der Türkei wiedereröffnen konnten. Nadjwans Mann allerdings verlor sämtliche Ersparnisse und begann 2014, mit einem Wagen vor dem Haus Hummus und Bohnensuppe zu verkaufen, die Nadjwan zubereitet hatte. Ich war immer gespannt Nadjwans politische Einschätzungen zu hören, denn sie überraschte mich oft mit unerwarteten Positionen. Seit meinem ersten Studienjahr war sie an meiner Seite. Vier Jahre zuvor war sie aus den Emiraten gekommen, hatte die Sekundarschule in Aleppo besucht und sich dann an der Universität eingeschrieben. Ihre Familie stammte ursprünglich vom Land. Bei den Vorfällen in den Achtzigern, genauer gesagt in ihrem achten Lebensjahr, war ihr Vater wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung festgenommen worden. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Leute in Zivil mit Pistolen in ihr Haus eingedrungen waren. Im Morgengrauen hatten sie ihren Vater, ohne dass er Widerstand geleistet hätte, vor den Augen seiner Frau, seiner Eltern und all ihrer Geschwister abgeführt. Danach hörte niemand mehr etwas von ihm. Fünf Jahre lang schaltete man alle möglichen Leute als Vermittler ein, ob sie ihn nun gekannt hatten oder nicht, bezahlte hohe Summen, und die Frauen gaben ihr Gold, nur um Gewissheit zu erlangen, ob er noch lebte. Dann erhielten sie die Nachricht, man habe ihn liquidiert. Sie kam von einem anderen Häftling, der ihn im Tadmur-Gefängnis getroffen hatte. Nadjwans Mutter heiratete daraufhin den ledigen Bruder ihres Mannes, der mit ihnen in ihrem Haus im Bezirk Bustan al-Qasr lebte. Die Familie mit den drei Kindern und der schönen, noch keine dreißig Jahre alten Mutter sollte schließlich eine Zukunft haben.

      Nachdem der Großvater und die Großmutter bereits gestorben waren, hörte man es an einem Septemberabend im Jahr 1995 an die Tür klopfen. Nach fünfzehn Jahren war der Häftling aus dem Gefängnis zurückgekehrt und suchte nun im Hause seines Vaters nach seiner Frau und seinen Kindern. Es war eine harte Zeit, jeder von ihnen, einschließlich der beiden Kinder, die Nadjwans Mutter von ihrem Onkel bekommen hatte, litt schrecklich


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