Mary Shelley. Barbara Sichtermann

Mary Shelley - Barbara Sichtermann


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      Mary Shelley, Gemälde von Samuel John Stump, 1831

      »Ich bin dir gefolgt«, sagte Shelley und ließ sich neben ihr nieder. »Hast du nichts bemerkt?« Mary schüttelte den Kopf. »O ja, ich kann gut schleichen. Zeig, was du liest. Lukrez. Das ist gut. Er hat Epikur seinen Zeitgenossen vorgestellt und ihnen gesagt: ›Lebt hier und jetzt, die Götter sind fern und nicht imstande, euch zu helfen, auch nicht, euch zu verderben.‹ Die Seele ist sterblich, liebste Mary, und wie der Körper hier auf Erden des größten Glückes fähig.«

      »Hat man ihn wegen seines Freidenkertums verfolgt? Hat man versucht, Lukrez den Mund zu verbieten?«

      »Wir wissen nichts über sein Leben. Was wir von ihm haben, sind seine Worte, seine Gedanken. Er glaubte, dass alle Materie aus Atomen zusammengesetzt sei. Eine moderne Ansicht, nicht wahr? Er war ein beherzter Denker. Lies ihn, du machst es richtig.«

      »Mein Latein ist noch dürftig. Ich muss immer wieder im Wörterbuch nachsehen. Aber es wird langsam besser.«

      »Wenn ich bedenke, dass ein Mädchen wie du, dass ein Kopf wie du, ein Mensch mit Geist, mit Fantasie, irgendwann die Bücher stehen lässt und nichts anderes macht, als Kinder auszuzanken und Wäsche aufzuhängen und eifersüchtig nach dem Ehemann zu spähen, der irgendwo in einem Gasthaus hängen geblieben ist, nur, weil du ein Weib bist, vorgesehen angeblich von der Natur für häuslichen Krims und Krams …«

      »Ha, wenn du das von mir glaubst, dann bist du in großem Irrtum, Percy Bysshe! Bookish girl, haben die Nachbarn und die Tanten gesagt, das war ich, und das werde ich immer sein, und ich werde selbst Bücher schreiben.« Sie nahm den Lukrez und schlug ihn einige Male gegen Shelleys Stirn, ordentlich heftig, und er ließ sie gewähren, hob die Arme im Spaß, als würde da ein schrecklicher Angriff gegen ihn gefahren.

      Das war sogar so. Mary würde ihr Lebenskonzept vor ihm als unverhandelbar verteidigen. Was immer aus ihr würde, sie würde bookish bleiben.

      Und wieder holte Shelley sie aus der Buchhandlung ab, und da er sehr gut wusste, dass die Nachbarn sie beobachteten und darüber reden würden, dass die mittlere Godwin-Tochter so oft Seite an Seite mit dem berüchtigten Dichter die Straße entlangwanderte, rief er Jane, und diese gesellte sich zu ihnen als eine Art Anstandswauwau. Man sprach über das Theater oder über die neuesten Geistergeschichten aus der Feder von Ann Radcliffe oder Matthew Gregory Lewis. Jane hatte nicht so viel gelesen wie Mary, sie war eigentlich gar nicht bookish, aber sie spürte, dass sie Shelley gefiel, wenn sie vor den beiden rückwärts lief und trotzdem nicht gegen den nächsten Baum prallte. Sie hatte Spaß daran, kleine Zettel mit Nachrichten zwischen Mary und Shelley hin- und herzutragen – sie las sie auch nicht, das versprach sie und das hielt sie. Shelley wohnte nicht weit entfernt, er war in eine Pension gezogen, ohne Harriet.

      »Wenn du so darauf bestehst, dass deine Frau euer Baby selbst stillt, dann solltest du auch an ihrer Seite sein und das Kind wiegen, damit die Mutter mal Atem holen kann«, sagte Jane und baute sich vor ihm auf. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie es zuging, als ihr kleiner Bruder William im Lauflernalter war. Irgendjemand schrie immer: der Kleine, seine Mutter, Godwin, der seine Ruhe wollte, oder Charly, dem Willy aufs Kissen gepinkelt hatte. Babys sind anstrengend, das hatte auch Shelley erfahren, und es hatte ihm zu schaffen gemacht. Er stimmte Jane zu, brachte aber zu seiner Verteidigung vor, dass er es aufgegeben habe, sich mit Eliza anzulegen, seiner Schwägerin, die seit der Flucht mit Harriet, damals vor drei Jahren, nicht von ihrer Schwester Seite gewichen war.

      »Sie ist ein Drachen und absolut geistlos. Ich kann nicht mit ihr reden.«

      »Warum schickst du sie nicht einfach fort?«

      »Das wäre schwierig. Harriet scheint sie zu brauchen. Es ist, wie es ist.«

      Jane machte ein paar Tanzschritte rückwärts und lief zur Skinner Street. Shelley und Mary zogen weiter zum nahe gelegenen Park und steuerten eine Bank unter Akazienbäumen an. Shelley sagte: »Wenn die Abendsonne so auf deinen Kopf scheint, verwandelt sich dein Haar in eine Aureole aus gesponnenem Kupfer. Und dazu deine Haut so weiß, weißer als Schnee.«

      »Sag mir, wie es um dich und Harriet steht. Es kann doch nicht nur um das Baby gehen.«

      »Ich habe sie damals befreit, weißt du, aus den Klauen von Lehrerinnen und Pfaffen und Eltern, die ihr Vorschriften machten und Befehle erteilten, denen sie nicht zu folgen vermochte, die sie eingezwängt hatten in enge Räume, Regeln und Doktrinen – ihren Körper, ihre Seele, ihren Verstand. Sie schien mir begabt und bildbar, reich beschenkt von der Natur mit Liebreiz und Sanftmut, beschränkt nicht durch sich selbst, sondern durch widrige Umstände, die stärker waren als sie, denen sie ohne äußere Hilfe keinen Widerstand entgegensetzen konnte. Diese äußere Hilfe wollte ich sein. An meiner Seite sollte sie zu sich selbst finden, ihrer Klugheit vertrauen, ihre Talente entwickeln, ihre Kraft fühlen und neuen Lebensmut schöpfen. Und so kam es auch. Aber dann …«

      Mary wartete darauf, dass Shelley weiterspräche, aber als nichts mehr kam, ergriff sie das Wort: »Liebe ist das eine«, sagte sie, »Treue das andere. Musst du nicht zu ihr stehen, auch wenn sie nicht die Frau ist, die du einst in ihr gesehen hast?«

      »Ich muss zu ihr stehen, keine Frage, sie hat unser Kind geboren und erwartet, so scheint es, ein zweites. Aber ein Zusammenleben ist nicht mehr möglich, das müsste sie selbst ebenso empfinden. Sie geht in einer Weise auf in den allerkleinsten Nichtigkeiten des Alltags, dass mir die Haare zu Berge stehen. Sie und Eliza bilden eine Front gegen mich – voller Verachtung für meine Kunst und voller Vorwurf gegen meine Lebensführung. Es ist zu Ende. Was ich Harriet geben wollte, hat sie nicht angenommen. Eine weitere Gabe für sie ist nicht in meinem seelischen Gepäck.«

      »Sie kann dich verpflichten, Bysshe. Immerhin habt ihr die Ehe geschlossen.«

      »Oh, komm mir nicht damit! Über die Ehe hat dein ehrwürdiger Vater alles Nötige gesagt. Er nannte sie das übelste aller Monopole, das bei Lichte besehen kein Mensch an einem anderen geltend machen dürfe. Wer wollte ihm widersprechen? Die Dinge liegen ganz einfach. Die Liebe ist frei. Zu versprechen, ewig dieselbe Frau zu lieben ist nicht weniger absurd als zu geloben, ewig demselben Glauben anzuhängen. So ein Schwur würde uns in beiden Fällen von jeglicher Erfahrung abschneiden. Die Sprache der Ehebefürworters und Pfaffen lautet so: Die Frau, die ich jetzt liebe, mag unendlich tief unter vielen anderen stehen; der Glaube, den ich jetzt bekenne, kann aus lauter Irrtümern und Wahnvorstellungen zusammengesetzt sein, aber ich schließe mich selbst von allen zukünftigen Erfahrungen in Sachen Liebe oder Glaube aus, und meiner tieferen Überzeugung zum Trotz entscheide ich mich: diese Frau und dieser Glaube, sie seien mein für alle Ewigkeit. Ist das die Sprache des Zartgefühls und der Vernunft? Ist die Liebe eines solchen fühllosen Herzens mehr wert als sein Glaube?«

      »Es gehört Mut dazu, so gegen die Erwartungen und die Moral der Menschen anzugehen«, sagte Mary. »Denn schöne Worte reichen nicht. Man muss auch so leben, wie sie es verlangen.«

      »Es reicht nie, nur zu reden. Auf das Tun kommt es an.«

      »Freiheit und Liebe. Die Worte gehören zusammen. Sie sind beide so schön.«

       »Liebe verkümmert unter Zwang. Ihr Wesen ist Freiheit. Sie geht weder mit Gehorsam zusammen noch mit Eifersucht oder Furcht. Sie ist da am reinsten, ist vollkommen und kennt kein Ende, wo die Menschen, die einander gewählt haben, in Vertrauen leben, in Gleichheit und Offenheit.«

      Mary mochte es, wenn Shelley philosophisch wurde und sie, nicht immer nur ihr Vater, die Angesprochene war. Sie nahm seine Gedanken auf und führte sie fort: »Kein Gesetz kann derlei garantieren oder auch nur einfordern.«

      »Das gilt auch für die körperliche Liebe«, sagte er. »Auch sie muss frei sein. Die sexuelle Verbindung sollte nur andauern, so lange zwei Menschen in Liebe zusammenkommen. Jedes Gesetz, das sie zum Beischlaf nötigt, nachdem ihre Gefühle füreinander erkaltet sind, wäre nichts als eine unerträgliche Tyrannei.«

      »Aber die Menschen bezeichnen so ein Leben in freier Liebe als Promiskuität und Sittenlosigkeit und verdammen es.«

      »Mary, es ist genau umgekehrt. Die


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