Das eigene Maß. Margrit Hasselmann

Das eigene Maß - Margrit Hasselmann


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Personen erlitten vermehrt Rückfälle.14

      Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert, Essstörungen mit hoher Priorität zu bekämpfen, weil sie ein großes gesundheitliches und psychosoziales Risiko bergen: Bei Jugendlichen ist die Anorexie die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeit (durch Mangelernährung und Suizid).15 Daher ist es wichtig, Essstörungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.

       Leben wir in einer essgestörten Gesellschaft?

      Ein problematisches Essverhalten fängt mitunter deutlich früher an. Da uns manche zwanghaften Essgewohnheiten und Ernährungseinschränkungen jedoch so alltäglich oder sogar gesundheitsbewusst erscheinen und sie als Problematik unerkannt bleiben, möchten wir den Fokus besonders darauf richten.

      Denn auch ein latent gestörtes Essverhalten kann die Lebensfreude enorm beeinträchtigen und hohen Leidensdruck erzeugen. So klagt in einer Studie ein Drittel über abendliche Essanfälle.16 In einer Befragung von 25 bis 45 Jahre alten Frauen berichtete ebenfalls ein Drittel, dass sie schon über die Hälfte ihrer bisherigen Lebenszeit Diät hielten.17 Die gesundheitlichen Folgen und die medizinischen Kosten, die aus einer Fehl- oder Überernährung entstehen können, sind nicht zu unterschätzen. Ebenso aber die psychischen Auswirkungen, wenn ein Großteil der Lebensenergie darauf verwendet wird, den eigenen Körper „in den Griff“ zu bekommen.

      Aufgrund der Ausmaße und der Entstehungsfaktoren eines gestörten Essverhaltens müssen wir bei diesem Thema auch berücksichtigen, wie unsere Lebensform und der Zeitgeist dazu beitragen. Wenn man weiß, dass eine hohe Körperunzufriedenheit und eine „Diätmentalität“ zu den größten Risikofaktoren für Essstörungen zählen – dann bietet unsere Kultur einen idealen Nährboden dafür. Aus diesem Grund spricht die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli in ihrem Buch „Size Zero“ auch von einer „essgestörten Gesellschaft“.18

      Unser Buch beleuchtet die Themen Hungern und Essen, Schlankheitsideal und Gewicht sowohl aus gesellschaftlicher als auch individueller Perspektive. Die Frage ist: Wie können gerade junge Menschen, aber auch Frauen und Männer jeden Alters, mit den gesellschaftlichen Anforderungen und Idealen zurechtkommen und dabei gesund bleiben? Was sind die Gelingensbedingungen, um ein intuitives Essverhalten und ein positives Körpergefühl zu erreichen? In vielen Bereichen unseres modernen Lebens geht es darum, sich von äußeren – nicht selten durch finanzielle Interessen geprägten – Angeboten zu distanzieren und zu eigenen Maßstäben zu finden. Dafür müssen wir als Gesellschaft und oft auch persönlich einige Sicht- und Denkweisen verändern.

       Was erwartet Sie in diesem Buch?

      Wir laden Sie ein, eine andere als die weit verbreitete Perspektive auf Essen, Gesundheit und den eigenen Körper einzunehmen. Dafür müssen wir zunächst die Einflüsse auf unser Essverhalten verstehen: körperliche und emotionale Faktoren, die Auswirkungen von Diäten, die Gründe, aus denen wir hungern oder zu viel essen und zunehmen. In den ersten Kapiteln beschreiben wir daher, welch vielfältige Bedeutung Essen in unserem Leben hat. Warum ein Gefühl für unser eigenes Maß oftmals verloren geht und wie die Leistungsgesellschaft und ihre Ideale unser Selbstbild beeinflussen können.

      Im Weiteren stellen wir dar, wie eine vermeintlich harmlose Diät zum Einstieg in eine Essstörung werden kann. Dabei beschäftigen wir uns mit den weit verbreiteten Sichtweisen und Mythen, welche die Gesundheits- und Diätindustrie – und nicht zuletzt wir selbst – uns immer wieder glauben machen wollen. Wir stellen vor, wie sich dies in unterschiedlichen Lebensphasen auswirken kann – gerade, wenn sie seelische oder körperliche Veränderungen mit sich bringen. Was Essstörungen genau sind und was man dagegen tun kann, erläutern wir in einem Extra-Kapitel.

      Schließlich zeigen wir im letzten Teil des Buches – auch anhand von Beispielen aus der Praxis von Margrit Hasselmann – wie Wege aussehen können, um wieder zu einem gesunden, genussvollen Essverhalten und zum Frieden mit dem eigenen Körper zurückzukommen.

      Sollten Sie bei sich persönlich oder bei Nahestehenden feststellen, dass die Themen Figur und Gewicht deutlich belastet sind, ein ständiger Kampf mit dem Essen und gegen den eigenen Körper stattfindet – dann kann sich die Auseinandersetzung mit einem „seltsamen“ Essverhalten lohnen. Weiterführende Adressen und Literatur dazu finden Sie im Anhang.

      Dieses Buch ist kein Ratgeber, wie Sie schnellstmöglich doch noch zur vermeintlichen Idealfigur kommen. Es gibt auch kein Versprechen auf kurzfristige Erfolge ab. Mit dem Wissen, das Ihnen dieses Buch vermittelt, ist es aber möglich, persönliche und nachhaltige Veränderungen anzugehen, die Ihr Leben lebenswerter machen können. Sobald wir all die damit verbundenen Mechanismen verstanden haben, können wir einen anderen Ansatz verfolgen: Weg von unrealistischen, krankmachenden Idealen, hin zu einer empathischeren Sicht auf uns selbst, zu einem besseren Körpergefühl – sowie zu einem dauerhaft entspannten Essverhalten.

      Viel Spaß bei dieser Entdeckungsreise!

      1. WARUM WIR ESSEN

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      Eigentlich scheint es ganz einfach: Essen gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen, wie Atmen oder Schlafen. Es ist lebensnotwendig, um den Organismus mit Energie und Nährstoffen zu versorgen. Es soll dazu beitragen, alle Körperfunktionen, das Immunsystem, den Stoffwechsel und die Leistungsfähigkeit bestmöglich aufrechtzuerhalten – kurz, unsere Gesundheit.

      Wenn man die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde legt, geht es bei Gesundheit um einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“19 Für all das ist unsere Ernährung eine wichtige Ressource. Denn neben dem gesundheitlichen Aspekt geht es auch um Bedürfnisbefriedigung – Essen spricht unsere Sinne an, kann großen Genuss bereiten und damit zur Lebensfreude beitragen.

      In Deutschland und anderen Industrienationen steht uns eine ungeheure Vielfalt und Fülle an Nahrung zur Verfügung, um uns nach unseren persönlichen Vorlieben abwechslungsreich und gesund zu ernähren. Warum haben dennoch so viele Menschen in unserer Gesellschaft Probleme mit dem Essen, mit ihrer Ernährung, mit ihrem Gewicht?

      In einer Studie des Demoskopischen Instituts Allensbach für Nestlé gaben 90 Prozent der Teilnehmenden an, dass sie mit ihrer Ernährung auch übergeordnete Ziele erreichen wollten: Rund 60 Prozent wollen ihre Fitness und Gesundheit, die Hälfte das persönliche Wohlbefinden stärken. Etwas mehr als ein Drittel will sich selbst optimieren, knapp ein Viertel etwas für das eigene Aussehen tun. Allerdings: 85 Prozent sind gleichzeitig mit dem eigenen Ernährungsverhalten unzufrieden und ernähren sich anders als gewollt. Ein Drittel der Befragten berichtete von abendlichen Heißhungerattacken. 31 Prozent gaben an, dass sie zu wenig Obst und Gemüse, 28 Prozent, dass sie zu viel Fett zu sich nähmen. Über zu wenig Zeit zum Essen klagte etwa ein Viertel der Befragten.20

      Warum also essen so viele Menschen anders, als es für ihre Gesundheit förderlich ist? Und warum hat eine so natürliche und lebensnotwendige Handlung wie Essen die Selbstverständlichkeit verloren? Um das zu verstehen, beschäftigen wir uns zunächst mit der Bedeutung von Essen. Wonach wählen wir unsere Lebensmittel aus, wann und wie viel essen wir? Was bestimmt unseren Blick auf Nahrung und unser Verhältnis zum Essen?

      KÖRPERLICHE FAKTOREN

      Am Lebensanfang sind körperliche Faktoren für die Nahrungsaufnahme entscheidend: Ein Baby ist noch völlig abhängig von seinen Bedürfnissen und deren Befriedigung. Daher verfügt unser Körper über komplexe Mechanismen, um die Energieversorgung sicherzustellen. Hunger, Durst und Sättigung sind dabei die wichtigsten Signale.

       Hunger und Sättigung


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