Wolken über Taiwan. Alice Grünfelder

Wolken über Taiwan - Alice Grünfelder


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möglich, als sei hier etwas möglich, von dem ich nur noch nichts weiß. Ein vertrautes Gefühl indes. Es erinnert mich nicht an Chengdu damals, sondern rührt an etwas tief in mir, das dort schon immer war und nun angestoßen wird.

      Das warme Wetter trägt zu dieser Stimmung bei, weil ich es liebe, wenn am Ende des Tages der laue Wind in der Abenddämmerung über meine Arme streift, voll sinnlicher Vertrautheit. Seltsam, dass ich Erinnerung denke, sich aber kein Bild dazu einstellt. Es ist nurmehr eine Ahnung von etwas, was meinen Körper erbeben lässt.

       Alishan

      Jahrtausendealte rote Zedern stehen im lichten Wald, der Waldboden von Farn bedeckt. Staunend gleitet mein Blick am Stamm entlang nach oben, wo er sich teilt. Selbst auf den Ästen spreizt sich der Farn.

      Seit ich Alishan besucht habe, bin ich im Baumfieber, empfänglicher auch für den heimischen Wald, für Baumrinden, ihre Schatten und Furchen, die Flechten wie Schuppen, das Totholz auf feuchtem Waldgrund und das Efeu, das Äste zu Tode umarmt. Bei Marion Poschmann lese ich: »Insofern handelt es sich um mehr als einen Ausflug. Unvermeidlich findet auf einer solchen Tour eine Sensibilisierung statt.«2 Doch wie geht das Schreiben darüber? Anders als die Malerei verfüge die Sprache über keine Technik, um die Welt der Bäume nuanciert zu beschreiben, bedauert Marion Poschmann. Die Sprache kenne nur Wiederholungen, eine Wurzel, ein Stamm, Blätter; es sind nur geringfügige Modifikationen möglich. Meine Versuche, die alten Zedern zu beschreiben, werden ihnen nicht gerecht; mir gehen die Wörter aus.

      Höre ich Emily, meine Verlegerfreundin, über die Zedern sprechen, merke ich, dass ihr die Bäume etwas anderes bedeuten. Für mich bilden sie vorerst eine stimmungsvolle Kulisse. Doch die Menschen hier gehen fast andächtig über Holzstege, einen halben Meter über dem Waldboden. Warum gibt es diese Stege? Traut man dem Waldboden nicht? Ist der Spaziergang durch den lichten Wald so vielleicht einfacher, kein Stolpern über Wurzeln? Ist die Natur so ungestörter? Ehrfürchtig schauen die Menschen hinauf in die ausgedünnten Wipfel. Reicht es womöglich, die Zeder aufzurufen, um eine bestimmte Gefühlswelt heraufzubeschwören?

      Dieser Wald, seine Bäume erzählen Geschichten. Alishan war einst ein Ort der Zuflucht. Als die Japaner 1895 kamen, flohen viele Taiwaner vor ihnen in die Berge. Nach dem Aufstand vom 28. Februar 1947 war anderswo kein Untertauchen mehr möglich. So liest es sich in der Erzählung »Flucht in die Berge« des Hakka-Schriftstellers Lee Chiao.3 Nachdem alle Kameraden verhaftet und einige auch getötet wurden, bleibt nur noch die Hauptperson übrig. Doch Spitzel lauern überall, verfolgen ihn in die Wälder und Berge. Der Flüchtende stirbt jedoch nicht durch die Kugel seines Verfolgers, sondern beide kommen durch den Biss einer Giftschlange zu Tode.

      Auch heute noch sterben in diesem Wald Menschen. Es sind sogenannte Baumräuber; shān lăoshū, Bergratten, werden sie genannt. Man sieht sie nicht. Diese Menschen wurden, wie viele andere vor ihnen, in die Berge geschickt, um Bäume zu fällen, des Geldes wegen. Schon die Japaner hatten Wohlgefallen am Wuchs und Aroma der Zedern gefunden, nannten sie hinoki und fällten sie. Die Nationalpartei Kuomintang (KMT) übernahm das Geschäft, denn es versprach Profit, bis nur noch wenige Baumriesen standen. 1991 wurde endlich das Fällen in sämtlichen Urwäldern Taiwans verboten.4

      Für Hoang, einen illegalen Einwanderer aus Vietnam, reichte 2018 das Geld in den Fabriken nicht, um zu Hause die Familie zu ernähren und die Schulden bei den Schleusern zu bezahlen. Er ging in den Süden, arbeitete auf Teefeldern, später für Gangs, die heimlich die alten Zedern fällen. Gefängnisstrafen bis zu zwanzig Jahren drohen den Holzdieben, deshalb wohl rannte Hoang bei seiner Verhaftung in den Wald, dem er sein Einkommen verdankte, was er mit dem Leben bezahlte. Er verblutete an einem Schuss in die Stirn, den Polizisten auf ihn abgefeuert hatten. Sein Bruder fand ihn fünf Tage später tot im Wald.5

      Das Holz, das stückweise aus dem Wald geholt wird, damit die Dieberei nicht auffällt, wird von den Souvenirhändlern in Sanyi gern gekauft. Aus ihm wird geschnitzt, was Touristen gefällt, was Glück bringt, Buddhastatuen und Äpfel zum Beispiel. Das ist auch für die Ladenbesitzer gefährlich; für den Kauf von illegal gefälltem Holz drohen ihnen Strafen zwischen achtzehn Monaten und fünf Jahren.6

      Doch einem jungen Holzkünstler will es gleich sein, woher sein Holz kommt. Er fragt nicht, sie sagen es nicht, doch dass es von den Baumratten ist, wissen alle. Er weiß um die Strafe, aber der Profit mit den Holzschnitzereien ist zu verlockend.

      Fast hätte ich so einen samtig-glatten gelben Holzapfel gekauft, als ich noch nicht von den Baumratten und den Toten im Wald wusste, wegen des Streichelns über das hellschimmernde Holz, wegen der vollendeten Rundung des Apfels; bloß die Nutzlosigkeit des Gegenstands hielt mich davon ab.

      Am Abend ist Alishan leer und verlassen, der Poetenpfad wie ausgestorben. Der Geruch nach frisch gemähtem Gras. Auf den Treppenstufen liegen Flügel toter Libellen.

      Nebel zieht über die Flanken des Berges. Die Sonne hat den Tag abgewartet, bricht kurz noch durch den bleichen Himmel. Zikaden zermalmen ihn zwischen den Kiefern. Dann Stille.

      Dann düstern Krähen. Ein Berg erhebt sich scharfkantig vor der untergehenden Sonne im Meer.

       Die Alten

      Sie haben mich schon immer überrascht, die Alten in Taiwan. Wie in China. Morgens treffen sie sich im Park, schlenkern mit den Armen, drehen die Hüfte, beugen sich ein wenig nach vorn, ein wenig nach hinten, so weit es die Wirbelsäule eben noch zulässt. Das Schwingen von Armen und Beinen gehört zu den bevorzugten Bewegungen. Manche tun so, als rennen sie, gehen, die Arme angewinkelt, eng am Oberkörper angelegt, diesen wiederum leicht nach vorn gebeugt, sodass mit Schritten die maximale Gehgeschwindigkeit erreicht wird. Und abends tanzen die Fitteren im Straßenlampenlicht, das kümmerlich die kreisrunden Plätze in den Parkanlagen beleuchtet.

      Nicht wusste ich, dass man zu einer Popvariante von Beethovens »Freude, schöner Götterfunken« in die Hände klatschen, Ellbogen auf Brusthöhe aneinanderdrücken und Arme nach vorn strecken kann – nicht unbedingt im Takt zwar, aber mit viel Elan. Sogar der Parkgärtner, der mit seinem Besen die Blätter, die über Nacht gefallen sind, zusammenfegt, schmettert die Freudenhymne mit.

      In den Straßen fallen all jene auf, die nicht mehr gehen können und einen dreifüßigen Gehstock spazieren führen oder im Rollstuhl sitzen. Die im Rollstuhl werden von jungen Frauen geschoben, die dem Aussehen nach aus Indonesien oder von den Philippinen stammen und fröhlich in ihre Smartphones plappern.

      Doch was ist schon alt? Mein Drachenbootteam, das fand ich allerdings erst später heraus, war das Ü60-Team, nur dass die zähen Männer und Frauen aussehen wie um die Vierzig. Man tut viel, um gesund alt zu werden. Dafür sorgt auch die Bulao-Bewegung. 2007 fuhren greise Motorradfahrer einmal um die ganze Insel und erfüllten sich damit einen alten Traum.7 Die Alten genießen das Leben in bescheidener Dankbarkeit.

       Ankommen

      Und es gibt immer wieder Tage, da denke ich, du bist angekommen. Ich sehe den Fluss, die Berge, die Hochhäuser am anderen Ufer und denke, angekommen im Nichts-anderes-mehr-wollen.

       Armut

      Wenn man hinhört, sieht man sie. Schuhe, die schlappen, weil zwei Lagen Zeitungspapier zwischen Ferse und Leder eingelegt sind. Die alte Frau hat die Schuhe entweder aus dem Abfall geklaubt oder gefunden; jedenfalls sind sie zu groß, Gummiboote an ihren Füssen. Ihr hellblauer Mundschutz hängt fast unterm Kinn, sie hat nur Augen für den Boden.

      Eine Frau beobachte ich, wie sie einen Rollkoffer hinter sich herzieht, dem ein Rad fehlt. Auf dem Koffer sind ihre Habseligkeiten festgezurrt, die offensichtlich nicht mehr hineingepasst haben.

      Wenn man genau hinsieht: viel zu weite Anoraks, die über schmalen Schultern hängen, fleckig auf der Brust und abgewetzt


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