Auge um Auge. Susan Boos
Energie und Kommunikation vor.
Wir verabreden uns im Bistro des Bernhard Theaters, das gleich neben dem Zürcher Opernhaus liegt. Es regnet wie verrückt. Moritz Leuenberger kommt herein, sein Regenmantel klatschnass, zwei schwere Taschen in den Händen. Material für eine Sitzung, die er nachher hier noch haben wird. Das Bernhard Theater ist seine neue Wirkungsstätte. Regelmäßig veranstaltet er im Theater Sonntagmatinées und unterhält sich mit Gästen – Schriftstellerinnen, Filmemachern, der Miss Schweiz oder Politikern. Er sagt, er sei jetzt unter die Entertainer gegangen und lacht. Es gehe in den Matinées nicht um Politik, mehr witzig, vergnügt und unterhaltsam sollen sie sein. Der Mann scheint nicht zu altern. Schmales Gesicht, schlank und dasselbe skeptische Lächeln wie früher.
Wie war das im Oktober 1993? Wann hatte er das erste Mal von dem Mordfall gehört?
Leuenberger bestellt sich heißes Wasser mit Zitrone. Er habe in der Zeitung über den Mord gelesen; daran könne er sich gut erinnern. »Die schreckliche Tat passierte ja in unmittelbarer Nähe. Aber ich hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, dass ich später etwas damit zu tun bekommen könnte.«
Erst Tage später begriff er, dass er in einen Mediensturm katapultiert worden war. Er weiß nicht mehr genau, an welchem Tag es exakt war, aber der Regierungsrat war auf einem Ausflug. Dort erfuhr er, dass die Tat von einem Rückfalltäter auf Urlaub begangen worden war. Als er nach Hause kam, stand ein Journalist vor seiner Haustüre. Er wollte ein Interview. Leuenberger verweigerte es; das sei ihm später vorgeworfen worden. »Ich stand in jenem Moment nicht über der Sache, insofern habe ich nicht adäquat reagiert. Aber es hat mich auch mitgenommen, ich war paralysiert. Das gibt es halt.«
Noch am selben Abend stellte sich Leuenberger den Medien. Er beantwortete die Fragen, soweit er das überhaupt konnte. Als erste Maßnahme erließ er für sämtliche Gewalt- und Sexualtäter eine Urlaubssperre. »Diese Urlaubssperre war gesetzeswidrig. Das war mir damals bewusst«, sagt er. »Die Emotionen sind aber dermaßen hoch gegangen, dass ich das gegeneinander abgewogen habe. Und interessanterweise hat es keinen einzigen Rekurs gegeben. Sogar die Häftlinge haben es irgendwie als politische Maßnahme akzeptiert. Aber ich weiß, es war eine populistische Reaktion.« Später setzte er eine Kommission ein, die sämtliche Urlaubsgesuche beurteilen musste.
Als Leuenberger sein Amt antrat, schaute er alle Unterschriftenregelungen an. Er wollte wissen, was er selbst entscheiden musste und was er delegieren konnte. Vor seinem Amtsantritt war ein Beamter dafür zuständig, ob ein Häftling in den Urlaub durfte oder nicht. Egal, für welche Tat er einsaß. Leuenberger änderte das. Er ordnete an, dass bei Gefangenen, die ein Gewaltdelikt begangen hatten, er persönlich unterschreiben musste, bevor der Häftling Freigang bekam.
Hauert wäre ein solcher Häftling gewesen, ohne jeden Zweifel. Doch niemand unterbreitete Leuenberger das Dossier Hauert zur Unterschrift. Man ließ ihn raus. Leuenberger wusste von nichts. »Ich könnte jetzt sagen: Wäre mir dieses Urlaubsgesuch gezeigt worden, hätte ich das niemals gestattet«, sagt er nachdenklich, »aber das kann ich ja ehrlicherweise gar nicht wissen. Wenn es mir nämlich gezeigt worden wäre, hätten sie mir wohl erläutert, warum das so sein müsse, und dann hätte ich vielleicht unterschrieben. Ich weiß es einfach nicht.«
Verschiedene Medien werfen Leuenberger noch Jahre nach der Tat vor, er sei informiert gewesen und habe doch nichts unternommen. Ein Staatsanwalt sagt im Fernsehen, er habe schon lange vor dem Mord an Pasquale Brumann vor dem lockeren Strafvollzug gewarnt; niemand habe auf ihn gehört. Die Weltwoche doppelt nach und schreibt, der besagte Staatsanwalt habe Leuenberger »mehrfach vor der drohenden Gefahr gewarnt«. Skandalös sei, wie Leuenberger das alles vertuscht habe, nur um sich die Wahl in den Bundesrat zu sichern.
Leuenberger erinnert sich an diese Vorwürfe. Er erzählt aus dem Innern seines Departements: »Als ich das Amt als Justizdirektor antrat, traf ich auf eine total feindliche Verwaltung – sie haben mich richtig gehasst.« Damals hatte er noch keine Erfahrung in der Exekutive. Er habe versucht mit den Beamten, die bereits für die Direktion gearbeitet hatten, irgendwie auszukommen. Die wichtigste Person war der Generalsekretär, den schon seine Vorgängerin eingesetzt hatte. Dieser Mann mochte seinen neuen Chef nicht. »Nach der Direktionsverteilung im Regierungsrat hat er seine Leute zusammengetrommelt und zu ihnen gesagt: ›Man hat uns den Abschaum zugeteilt.‹ Mit dem Abschaum, den man ihnen zugeteilt habe, meinte er mich«, erzählt Leuenberger. »Als ich das erfuhr, hätte ich ihm sofort kündigen müssen. Stattdessen habe ich immer wieder probiert, mit ihm auszukommen. Die ersten zwei Jahre in der Justizdirektion waren für mich die Hölle.« Der Generalsekretär habe alles hintertrieben und ihm systematisch Informationen vorenthalten. Deshalb, so sagt Leuenberger heute, könne es durchaus sein, dass die Justizdirektion informiert gewesen war. »Aber ich selbst hatte mit besagtem Staatsanwalt nie direkten Kontakt in dieser Sache.«
Kurz nach dem Mord sollte Leuenberger vor dem Kantonsrat eine Erklärung abgeben. Der Generalsekretär schrieb ihm einen Entwurf. »Wenn ich eine solche Erklärung abgegeben hätte, das wäre mein politisches Todesurteil gewesen. Vermutlich hat er das auch gewollt«, konstatiert Leuenberger. »Er schrieb in etwa sinngemäß: Dieser Mordfall sei die Folge des linken Strafvollzugs, jetzt könne man sehen, wohin der ganze übersteigerte Sozialgedanke führe und so weiter. Dabei hatte der Generalsekretär diesen Strafvollzug seit Jahren selbst zu verantworten, wollte aber die Fehler, die bei Hauert gemacht worden waren, mir und meiner politischen Herkunft in die Schuhe schieben.« In diesem Moment sei ihm klar gewesen, dass er seinen Generalsekretär entlassen musste. Was er dann auch tat.
Leuenberger nimmt aus einem Mäppchen die Erklärung, die er danach selbst verfasste. Er hält ein dreiseitiges, ziemlich vergilbtes Papier in den Händen. Datiert vom 8. November 1993:
»Letztes Wochenende wurde in Zollikerberg die zwanzigjährige Frau Pasquale Brumann ermordet.
Als wir von diesem Verbrechen erfuhren, fragten wir uns entsetzt, wie ist so etwas möglich, was hat diese Frau durchgemacht, welche Schmerzen leidet die Familie, jetzt und immer. Wir denken an unsere und an befreundete Kinder und Frauen und auch an uns selbst. Mit der Familie fragen wir: Warum? Wir haben Angst und sind verunsichert.
Im Namen des Regierungsrates des Kantons Zürich spreche ich den Angehörigen des Opfers unser schmerzlich empfundenes Mit- und Beileid aus. Sie haben nicht nur Anrecht auf unser Mitgefühl, sondern auch auf materielle und rechtliche Hilfe zur Bewältigung ihrer Probleme und Durchsetzung ihrer Rechte. […]
Der Täter ist ein aus der Strafanstalt Regensdorf [heute JVA Pöschwies] beurlaubter Gefangener. Dieser Urlaub ist somit eine Mitursache des Verbrechens. Diese Mitursache hat der Staat gesetzt und zu verantworten. […]
Ferner ist es unsere Pflicht, alles Erdenkliche zu unternehmen, dass sich eine auch nur viel geringere Katastrophe nicht wiederholt. […]
Selbst wenn über 95 Prozent aller Urlaube unproblematisch verlaufen, dürfen wir uns nach einem derartigen Ereignis nicht rechtfertigend auf den Standpunkt stellen, es seien keine Fehler begangen worden, absolute Sicherheit sei ja doch nie zu erreichen, und zur Tagesordnung übergehen. […]
Bei der Frage der Gefährlichkeit oder Rückfälligkeit eines Täters hat die Öffentlichkeit den Anspruch, dass im Zweifel für ihre Sicherheit entschieden wird.«
Es war eine historische Rede, die bis heute Auswirkungen hat. Das Credo »im Zweifel für die Sicherheit« gilt seither und führt dazu, dass mehr Menschen präventiv im Gefängnis bleiben.
Leuenberger war selbst Verteidiger. Hat der Fall Hauert seinen Blick aufs Strafen verändert? Nein, sagt er, aber die Rolle als Regierungsrat sei eine andere gewesen. »Als Verteidiger hat man die Aufgabe, sich prioritär für die Interessen seines Mandanten einzusetzen. Als Regierungsrat musste ich mir dann sagen: Mein Mandant ist die Allgemeinheit. Das sind sehr viel mehr Menschen, deren Interessen ich vertreten muss. Ich persönlich habe die Rache als Motiv für den Strafvollzug nie akzeptieren können. Es geht darum, eine sinnvolle Strafe zu verhängen, die den Täter resozialisiert und verhindert, dass er rückfällig wird. Ihn aus Rache hart zu bestrafen kann kein Kriterium sein. Es kommt doch darauf an, dass er nicht rückfällig wird, und da kann eine harte Strafe das Gegenteil bewirken. Als Justizdirektor habe ich gemerkt, Opfer denken anders.