Inselromane. Julia Meier
spielt in seiner Verkleidung als junge Holländerin van Leuvens Frau, in einer Intrige, die den WF entstammt, jedoch von London auf ein Landgut bei Kopenhagen transferiert und zu einer detailreichen Szene ausgemalt wird. Dabei verliert van Leuven beinahe seine heimliche Braut Concordia, die sich von ihm hintergangen glaubt, weil sie Alberts Rollenspiel nicht durchschaut und ihn für die Frau ihres Geliebten hält. Doch alles wird aufgeklärt, die Entführung gelingt und das frisch getraute Ehepaar schifft sich zusammen mit Albert und Minga, Concordias schwarzer Dienerin, und dem Hündchen Beautiful nach Ostindien ein. Die Seereise endet wie in den WF mit Sturm, Schiffbruch und Rettung auf der Insel Felsenburg.10
Die nun folgende Erzählung des Lebens der Schiffbrüchigen auf der Insel gestaltet sich in den wesentlichen Grundzügen wie in den WF, wobei viele der in diesem Kontext von Schnabel geschilderten Ereignisse in charakteristischer Weise ausgemalt und erweitert werden: die Veränderungen machen nämlich fast durchwegs Bezüge zu anderen Texten sichtbar. Als Beispiel sei Robinson Crusoe genannt, auf den mehrmals ironisierend angespielt wird; so erinnert z.B. die Beschreibung, die Albert von sich selber und seiner Kleidung gibt (IS III: 295), an eine ähnliche Selbstdarstellung Robinsons (DefoeDefoe, Daniel 1719: 176–177). Ebenso spielt Alberts Angst vor Kannibalen, die ihn „greifen, schlachten, braten und verzehren“ könnten (IS III: 301), auf Robinsons Ängste an, wobei die Ironie nicht nur in der Häufung der Schreckensverben liegt, sondern auch in der Umkehrung der Chronologie, da zu der Zeit, als Albert auf die Insel gelangte, Robinson Crusoe noch gar nicht existierte.
Ein anderer Bezugstext könnte, wie schon für Schnabels WF, auch wieder NevillesNeville, Henry Isle of Pines sein, worauf die Anwesenheit Mingas unter den Schiffbrüchigen und Lemelies Thematisierung des Sexualverkehrs mit ihr hinzuweisen scheinen, denn beim Schiffbruch in The Isle of Pines wird ebenfalls eine Schwarze gerettet; aber im Gegensatz zu Lemelie, für den eine Vereinigung mit Minga undenkbar ist (IS III: 313), schläft Joris Pines, der einzige gerettete Mann, auch mit der Schwarzen, wie mit den drei überlebenden weissen Frauen (Neville 1999: 197–198).
Trotz solcher Anspielungen folgt der Verlauf der Erzählung in dieser Phase der Vorgabe Schnabels, wobei öfters nur leicht umgearbeitete Sätze oder wörtlich belassene Satzfragmente aus den WF übernommen wurden. Einige Passagen weisen ein so dichtes Netz wörtlicher Übernahmen auf, dass der Text stellenweise wie ein Mosaik aus Zitaten11Kristeva, Julia der WF und Oehlenschlägers eigenen Formulierungen erscheint.12Arnim, Achim von
Auch die Geschehnisse um die Entdeckung der Höhle von Cyrillo de Valaro, dem spanischen Erstbesiedler der Insel, stimmen in den wesentlichen Zügen mit den entsprechenden Vorgängen in den WF überein.13 Das Manuskript mit Cyrillos Lebensbeschreibung ist dabei der wertvollste Fund, den die Höhle birgt; Albert übersetzt es aus dem Lateinischen und liest es dann seinen Gefährten vor. In der Inselgegenwart übergibt er Eberhard die wohlverwahrten Papiere, mit der Bitte, sie den Zuhörern vorzulesen (IS III: 360). Damit erweist sich Cyrillos Manuskript als Schnittpunkt polyphoner Phänomene: Dem Publikum wird ein Bericht vorgetragen, dessen lateinische „Originalstimme“ von einer deutschen Version überlagert wurde, wobei Eberhards Stimme jene des eigentlichen Erzählers Albert ablöst. Abgesehen von den Geschehnissen rund um den Manuskriptfund unterscheidet sich Cyrillos Biographie in vieler Hinsicht sehr deutlich von Schnabels entsprechender Erzählung. Ein besonders signifikantes Ereignis ist dabei die Begegnung des Spaniers mit AriostAriosto, Ludovico, die durch Verschiebungen in der Schnabelschen Chronologie ermöglicht wird und zu weitgespannten Diskussionen über Poetik und Dichtkunst führt.14Ariosto, Ludovico Mit der Lesung von Cyrillos Manuskript schliesst der dritte Band.
Im vierten Teil berichtet Albert über die einschneidendsten Ereignisse auf der Insel: Wie in den WF ermordet Lemelie van Leuven, um Concordia zu besitzen; dann aber weicht der Text von Schnabels Vorlage ab, denn Minga, die bei Schnabel nicht vorkommt, hat den Mord beobachtet und wird deswegen von Lemelie beinahe erwürgt, worauf sie ihn einige Tage später tödlich verwundet. Während er in den WF sterbend eine Beichte seines lasterhaften Verbrecherdaseins ablegt, hat er in den IS sein Leben niedergeschrieben: „Ich bin auch Schriftsteller geworden“, und fordert die andern auf, seine Geschichte zu lesen (IS IV: 53). Diese ist im Vergleich zu Schnabels Pendant sehr stark ausgeweitet und vor allem in einem realen geschichtlichen Kontext verortet, denn Lemelie wird in Paris zur Zeit der blutigen Hugenottenkriege geboren. Die Grausamkeit dieser Religionswirren dient ihm als Apologie seiner Freveltaten: „[…] wie ich es getrieben, haben es Viele getrieben, und die meisten meiner Zeitgenossen waren ärger als ich“ (IS IV: 53). Laut seiner Erzählung war er an der Ermordung Heinrichs IV. beteiligt, denn er stiftete Franz Ravaillac zum Königsmord an. Nach der detailliert geschilderten, äusserst brutalen Hinrichtung des Königsmörders verlässt Lemelie Paris, begeht in Florenz einen bestialischen Mord an seinem eigenen neugeborenen Kind und unterschreibt mit dessen Blut einen Pakt mit dem Teufel. Er bereichert sich durch Geldspiele, geht als Freibeuter zur See, wird bei einer Meuterei gehängt, kommt dennoch mit dem Leben davon, was er dem Teufelspakt zuschreibt, und gelangt schliesslich nach Kopenhagen, wo er das Schiff ausrüstet, mit dem van Leuven und die Seinen nach Ostindien reisen wollen. Hier endet sein Manuskript; den Rest seiner Verbrechen, die Ermordung van Leuvens und den Mordversuch an Minga, beichtet er mündlich; dabei sieht er immer den Teufel im Spiel, von dem er nun auch geholt wird, wie er glaubt, und sich eine Todesszene ausmalt, wie man sie in Anklängen aus dem Faustbuch kennt: „Dann greift er [der Teufel] uns beim Genick, zerschmettert den Gehirnkasten gegen den Fensterpfosten, verschwindet mit der verdammten Seele […]“ (IS IV: 110), und wie Faust schreit auch er um Hilfe, ehe er den Geist aufgibt (IS IV: 110).15
Albert und Concordia trauern um van Leuven, und wagen längere Zeit nicht, einander ihre Liebe zu gestehen. Albert sucht nach einem Zeichen, dass Concordia ihn liebt, und erinnert sich dabei an ein Gedicht, das sie einst geschrieben hatte, als sie ihn tot glaubte, weil er von seinen Inselerkundungen lange nicht zurückkehrte. Sie hatte es damals zerrissen, ohne es ihm zu zeigen. Die Gedichtfetzen sind durch einen „tiefe[n], schmale[n] Riss“ gefallen, aus dem er sie jetzt herausholt, indem er seinen „Stab“ in die Ritze steckt: „Ich klebte ein wenig Wachs an meinen Stab, und so langte ich gemächlich alle Papierfragmente herauf“ (IS IV: 132). Die sexuell konnotierte Aktion fördert schliesslich eine Liebeserklärung an Albert zutage, die Concordia – noch zu Lebzeiten van Leuvens – in Gedichtform verfasst hatte, womit sie sich, nebenbei gesagt, auch als Dichterin erweist. Wie die genussvolle Verzögerung eines Sexualaktes wirkt es, wenn Albert sich „nicht übereilen, sondern den schönen Spaziergang durch den Garten zu Paphos Schritt vor Schritt machen [will], wohl wissend, dass eben die Umwege […] am schönsten zum Ziele führen“ (IS IV: 134). Dieser „Garten zu Paphos“16 wird mit Paradiesvorstellungen assoziiert, denn Concordias „dänische Handschuhe“17 schmiegen sich „wie feine Häute um die schönsten Schlangen“ (IS IV: 137). Ihre Unterrichtsstunde im Lautenspiel erscheint mit der Erwähnung des „Fingersatzes“, den sie Albert lehren will, indem sie ihm „gerade auf den Leib [geht]“, und seine Finger „zurecht auf die Saiten“ setzt, als maskiertes Sexualspiel (IS IV: 138–139).
Sie feiern Hochzeit, aber nicht nach dem strengen Ritual aus der biblischen Tobiasgeschichte wie in den WF,18Neville, Henry sondern mit einem Lied, das Albert für den Anlass dichtete19Neville, Henry und das er Eberhard nun zu lesen gibt; es bildet den Schlusspunkt von Alberts Erzählung.
Der auktoriale Erzähler ergreift wieder das Wort und schildert die Ereignisse nach der Ankunft Eberhards und seiner Gefährten auf der Insel Felsenburg. Dazu gehören der Bau einer Kirche und die Lebensgeschichten von Litzberg und Lademann, Eberhards Liebe zu Cordula, der Urenkelin van Leuvens und Concordias, die Ankunft von Eberhards Vater auf der Insel Felsenburg, und schliesslich Alberts Tod, der ein allmähliches Erlöschen ist, währenddessen Albert sein ganzes Leben mit allen wichtigen Personen in einer Traumvision an sich vorbeiziehen sieht. Nach seinem Tod verändert sich das Zusammenleben auf der Insel: Es bilden sich Parteien, und Streitigkeiten entstehen, da Cordulas Vater, Robert Hulter, auf seine Adelsabstammung als Nachfahre van Leuvens pocht. Der Zwist wird kurzfristig unterbrochen, als sie von portugiesischen Schiffen aus bombardiert werden (IS IV: 267). Die Felsenburger vermögen sich zu wehren, wissen aber, dass ihre Unabhängigkeit bedroht