Die wirkliche Lage in Rußland . Leo Trotzki

Die wirkliche Lage in Rußland  - Leo Trotzki


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Sowjetstaat aufzuwiegeln und unsere Arbeiter dahin zu bringen, die bürgerlich-menschewistische Parole »Zurück zum Kapitalismus«, anzunehmen. Der selbstzufriedene Staatsbeamte, der in der Forderung der Opposition, die materielle Lage der Arbeiter zu verbessern, »Menschewismus« sieht, leistet damit dem Menschewismus den bestmöglichen Dienst. Er treibt die Arbeiter unter dessen gelbes Banner.

      Um Schwierigkeiten zu überwinden, ist es notwendig, sie zu kennen. Es ist notwendig, gerecht und ehrlich unsere Erfolge und Fehlschläge an der wirklichen Lage der arbeitenden Klassen zu prüfen.

      Die Lage der Arbeiter

      Unsere Periode des Wiederaufbaus brachte bis zum Herbst 1925 ein genügend schnelles Anwachsen der Löhne. Aber die beträchtliche Abnahme der Reallöhne, die 1926 begann, wurde erst mit Beginn des Jahres 1927 überwunden. Die Monatslöhne in den ersten zwei Quartalen des Fiskaljahres 1926–1927 betrugen im Durchschnitt in der großen Industrie in Moskauer Rubeln: 30 Rubel 67 Kopeken und 30 Rubel 33 Kopeken – gegen 29 Rubel 68 Kopeken im Herbst 1925. Im dritten Quartal betrug – nach einstweiligen Berechnungen – der Lohn 31 Rubel 62 Kopeken. Es sind also die Reallöhne im gegenwärtigen Jahr ungefähr auf der Höhe vom Herbst 1925 stehen geblieben.

      Natürlich sind die Löhne und die allgemeine materielle Lage von besonderen Arbeiterkategorien und in besonderen Bezirken – vor allem in Moskau und Leningrad – zweifellos höher als dieser Durchschnitt. Dafür bleibt aber die materielle Lage anderer, sehr ausgedehnter Arbeiterschichten beträchtlich unter diesen Durchschnittszahlen.

      Überdies bezeugen alle Statistiken, daß das Anwachsen der Löhne hinter der zunehmenden Produktivität der Arbeit zurückbleibt. Die Intensität der Arbeit vermehrt sich – die schlechten Arbeitsbedingungen bleiben die gleichen.

      Die Erhöhung von Löhnen wird mehr und mehr an die Bedingung einer stärkeren Intensität der Arbeit geknüpft. Diese neue Tendenz, die unvereinbar mit einem sozialistischen Entwicklungsgang ist, hat der Zentralausschuß noch durch seine bekannte Resolution über Rationalisierung verstärkt. Der vierte Kongreß der Sowjets nahm ebenfalls diese Resolution an. Eine solche Politik bedeutet aber nichts anderes, als daß ein durch technische Entwicklung herbeigeführter Wohlstand (vergrößerte Produktivität der Arbeit) nicht von selbst auch zu einer Erhöhung der Löhne führt.

      Das geringe numerische Anwachsen der Arbeiter bedeutet eine Abnahme der Zahl der arbeitenden Glieder jeder Familie. In wirklichen Rubeln hat sich das Ausgabenbudget der Arbeiterfamilie seit 1924–1925 gesenkt. Das Anwachsen der Kosten für Wohnungen hat den Arbeiter gezwungen, einen Teil seiner Wohnung zu vermieten. Die Arbeitslosen belasten direkt oder indirekt den Etat der Arbeiter. Das schnelle Anwachsen des Verbrauchs von alkoholischen Getränken belastet seinen Etat. In der Gesamtsumme haben wir eine ersichtliche Senkung seiner Lebenshaltung. Die Rationalisierung der Produktion, die jetzt eingeführt worden ist, wird unvermeidlich die Lage der Arbeiterklasse noch mehr herabbringen, wenn sie nicht von einer Ausdehnung der Industrie und des Handels begleitet ist, die die entlassenen Arbeiter aufnimmt. In der Praxis kommt »Rationalisierung« oft auf das »Hinauswerfen« von Arbeitern und auf eine Verschlechterung der materiellen Lage der andern hinaus. Dieses erfüllt unvermeidlich die Masse der Arbeiter mit einem Mißtrauen gegen die Rationalisierung selbst.

      Bei einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen ist es immer die schwächste Gruppe, die am meisten leidet: die der ungelernten Arbeiter, der Saisonarbeiter, der Frauen und der Jugendlichen.

      Im Jahre 1926 gab es eine ersichtliche Senkung der Löhne der Frauen, verglichen mit denen der Männer, und zwar in fast allen Zweigen der Industrie. Unter den ungelernten Arbeitern in drei verschiedenen Zweigen der Industrie betrug das Einkommen der Frauen im März 1926 nur 51,8 Prozent, 61,7 Prozent und 83 Prozent des Einkommens der Männer. Notwendige Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Frauen in solchen Zweigen wie die Torfindustrie, das Verladen und Ausladen usw. sind nicht ausgeführt worden. Die Durchschnittslöhne von Jugendlichen sind im Verhältnis zu den allgemeinen Arbeiterlöhnen in einer ständigen Senkung begriffen. Im Jahre 1923 betrugen sie 47,1 Prozent, 1924 45 Prozent, 1925 43,4 Prozent, 1926 40,5 Prozent, 1927 39,5 Prozent.

      Im März 1926 erhielten 49,5 Prozent der Jugendlichen weniger als 20 Rubel. Die Aufhebung der Bestimmung, daß in jedem Industriebetrieb auf eine gewisse Anzahl von Arbeitern eine bestimmte Zahl von Jugendlichen eingestellt werden mußte, war ein schwerer Schlag für die arbeitende Jugend und die Arbeiterfamilien. Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen ist in starkem Anwachsen begriffen.

      Landarbeit

      Von den annähernd dreiundeinhalb Millionen Lohnarbeitern auf dem Lande sind 1 600 000 ländliche Hilfsarbeiter, Männer und Frauen. Nur 20 Prozent von diesen Hilfsarbeitern sind in Gewerkschaften organisiert. Die staatliche Eintragung der Lohnkontrakte, die oft so niedrig sind, daß sie praktisch Sklaverei bedeuten, hat kaum begonnen. Die Löhne der Landarbeiter befinden sich gewöhnlich unter dem gesetzlichen Minimum – und dies oftmals sogar auf den Sowjetgütern. Die realen Löhne erheben sich im Durchschnitt nicht über 63 Prozent des Vorkriegsstandes. Der Arbeitstag dauert selten weniger als zehn Stunden. In der Mehrzahl der Fälle ist er tatsächlich unbegrenzt. Löhne werden unregelmäßig bezahlt, oft erst nach unerträglichem Zögern. Diese elende Lage der Lohnarbeiter ist nicht nur eine Folge der Schwierigkeiten, wie sie der Aufbau des Sozialismus in einem rückständigen, bäuerlichen Lande ergibt. Sie ist auch ohne jeden Zweifel eine Folge des falschen Kurses, der in seiner wirklichen Betätigung hauptsächlich auf die oberen Schichten und nicht auf die unteren Schichten des Dorfes achtet. Wir müssen einen allseitigen, systematischen Schutz der Lohnarbeiter, nicht nur gegen den Kulak, den reichen Bauern, sondern auch gegen den sogenannten wohlhabenden Mittelbauern, einrichten.

      Die Wohnfrage

      Der normale Wohnraum für die Arbeiter ist in der Regel beträchtlich kleiner als der durchschnittliche Raum der gesamten städtischen Bevölkerung. Die Arbeiter in den großen Industriestädten sind in dieser Hinsicht der am ungünstigsten gestellte Teil der Bevölkerung. Die Verteilung des Raumes zum Wohnen ergab in einer Reihe von daraufhin untersuchten Städten für einzelne soziale Gruppen folgendes:

      Für den Industriearbeiter 5,6 Quadratmeter, für den geistigen Arbeiter 6,9, für den Künstler 7,6, für den gelernten Arbeiter 10,9 und für das nicht arbeitende Element 7,1 Quadratmeter. Die Arbeiter nehmen den letzten Platz ein. Überdies vermindert sich die Ausdehnung der Arbeiterwohnungen von Jahr zu Jahr, die der nicht proletarischen Elemente vergrößert sich. Die allgemeine Lage auf dem Gebiete des Wohnungsbaues bedroht die Weiterentwicklung der Industrie. Trotz dieser Tatsache gibt der Fünfjahresplan der Kommission für Staatsunternehmungen einen Voranschlag über den Bau von Wohnhäusern, wonach die Wohnungsverhältnisse am Ende dieser fünf Jahre schlimmer sein werden, als sie jetzt sind. Die Kommission gibt dieses selber zu. Von 11,3 Quadratarschins Ende des Jahres 1926 wird sich der übliche Durchschnitt nach dem Fünfjahresplan bis Ende 1931 auf 10,6 gesenkt haben.

      Arbeitslosigkeit

      Die langsame Entwicklung der Industrie gibt nirgendwo ein so ungesundes Bild wie in der Arbeitslosigkeit, die die festesten Reihen des Industrieproletariats angegriffen hat. Die amtliche Zahl der eingetragenen Arbeitslosen war im April 1927 1 478 000. Die wirkliche Zahl der Arbeitslosen war etwa 2 Millionen. Die Zahl der Arbeitslosen wächst unvergleichlich schneller als die Gesamtzahl der beschäftigten Arbeiter. Nach dem Fünfjahresplan der Kommission für Staatsunternehmungen werden unsere Industrien die ganzen fünf Jahre hindurch etwas über 400 000 ständig beschäftigte Arbeiter benötigen. Dies bedeutet bei dem ständigen Zustrom von Arbeitern aus dem Lande, daß Ende 1931 die Zahl der Arbeitslosen auf nicht weniger als 3 Millionen Männer und Frauen gestiegen sein wird. Die Folge eines solchen Zustandes wird eine wachsende Zahl von obdachlosen Kindern, von Bettlern und Prostituierten sein. Die geringe Entschädigung, die man den Arbeitslosen bezahlt, erregt berechtigten Unwillen. Sie erhalten im Durchschnitt 11,9 Rubel, das heißt 5 Vorkriegsrubel. Die Gewerkschaften zahlen eine Arbeitslosenrente von durchschnittlich 6,5 bis 7 Rubel. Diese Renten erhalten aber nur etwa 20 Prozent von arbeitslosen Gewerkschaftsmitgliedern.

      Das


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