Schule – quo vadis?. Peter Maier
dann auf die Pädagogik übertragen. Man spricht etwa von Selbstkompetenz, Sachkompetenz, Methodenkompetenz, Sozialkompetenz, Handlungskompetenz und Systemkompetenz. (vgl. S. 46).
Der Kompetenzbegriff hat sich mittlerweile zu „dem“ Universalbegriff in der Bildungspolitik schlechthin entwickelt, der alles andere – auch Schlüsselqualifikationen und Sachkenntnis – in sich aufnimmt. Wohin diese Entwicklung gehen kann, zeigt zum Beispiel der umstrittene Entwurf „Lehrplan 21“ in der Schweiz, der 4000 (!) Kompetenzen aufweisen kann. (vgl. S. 49).
7. These
Diese Umstellung von Bildung und Fachwissen auf nur noch Kompetenzen ist „eine Praxis der Unbildung, die vor gar nichts mehr zurückschreckt.“ (S. 51). Denn dieses Kompetenz-Konzept erwies sich in der Praxis als verheerend, nachdem es „... in die Hände von Fachdidaktikern, empirischen Bildungsforschern, Schulreformern und ministeriellen Bürokraten gelangt...“ war. (S. 47).
Mit der ausschließlichen Kompetenzorientierung wurden nämlich gleich zwei Gesichtspunkte mit festgelegt: Alle Kompetenzen müssen ausschließlich dem Lösen von Problemen dienen; und alles Problemlösen muss erfolgreich umgesetzt, genützt und auf konkrete Situationen angewandt werden können. Die Folge: Alles, was in der Schule in Zukunft gelernt wird, muss anwendungsorientiert und mit dem Nachweis der Nützlichkeit versehen sein. (vgl. S. 47 f.).
Wir sind heute zu feige geworden, in geistigen Inhalten einen Wert an sich zu sehen – jenseits aller aktuellen Bedürfnisse. Das eigentliche Wissen wird aus den Lehrplänen geworfen. Dafür vermitteln und testen wird dann (inhalts)leere Kompetenzen, die wir für besonders praxis- und lebensnah halten – die Praxis der Unbildung in ihrer hypertrophen Gestalt. Der reinen Kompetenz-Ideologie wird alles andere geopfert. (vgl. S. 56 f. und S. 59).
8. These
Die Entwicklung ist schon so weit gediehen, dass konstatiert werden muss: „Uns fehlt mittlerweile jede Vorstellung davon, dass es geistige Inhalte geben könnte, die Wert und Interesse in und für sich selber haben und deshalb der entscheidende Stoff, die entscheidende Nahrung für die Entwicklung eines jungen Menschen sein müssen. Wissen heute ist ergebnisorientiert und anlassbezogen, es soll sich entweder an den Bedürfnissen der jungen Menschen, an den Wünschen der Arbeitgeber oder an den Herausforderungen der Zukunft, die niemand kennt, orientieren.“ (S. 56)
Dagegen muss gefordert werden, dass wieder offen über den Bildungskanon debattiert wird. Es sollte eine Lust auch an einer zweckfreien Betätigung des Geistes geben, denn nur so kann wieder Wissen entstehen, das zugleich notwendig und befreiend ist. Die Bildungsplaner sollten doch darauf vertrauen, dass all die Kompetenzen auch dann erreicht werden können, wenn die ganze Bildung nicht schon von vorneherein nur noch zweckgebunden ist. (vgl. S. 59 f).
9. These
Durch die Kompetenzorientierung werden nun die operationalisierbaren Fähigkeiten und nicht mehr fachspezifische Kenntnisse als zentrale Ziele von Lernprozessen proklamiert. Die Fächer und Disziplinen, die es immer gegeben hat in der Schule und an der Universität, unterliegen nicht zuletzt deshalb „... aktuell einem rasanten Prozess der Verflüchtigung, der nicht nur altgewohnte und liebgewordene Vorstellungen zerstört, sondern auch die Frage nach den Ordnungen des Wissens völlig neu stellt.“ (S. 61).
Dabei ist es doch so, dass sich die Neugierde der Schüler immer auf etwas, auf einen Gegenstand, also auf ein Fach richtet, nie jedoch auf eine Kompetenz. Eine bloße Kompetenz kann keine Begeisterung vermitteln – weder bei Schülern noch bei Lehrern. (vgl. S. 76 f.).
Um dies an einem Beispiel klar zu machen: Ein Text selbst sollte doch Inhalt und Ziel des Unterrichts sein, aber dies „... ist der kompetenzorientierten Bildungskonzeption fremd geworden. In der Fächerdämmerung, die sich über unsere Schulen … senkt, verschwindet so ein essentielles Moment europäischer Bildung: der Hunger nach Erkenntnis, der Wille zur Welt, die Konzentration auf eine Sache, die Neugier auf alles Mögliche und nicht nur auf das, was heute oder morgen nützen kann. Die neue Disziplinlosigkeit führt zu einer Verwahrlosung des Denkens und einer Abwertung des Wissens, die nur im Interesse jener sein kann, die kein Interesse an gebildeten Menschen haben, da die Dummheit zu den Fundamenten ihres Geschäftsmodells zählt.“ (S. 76).
10. These
Nur wenn die Fächer als solche erhalten bleiben, bleibt auch echte Bildung erhalten, die diesen Namen noch verdient. Fachwissen durch Kompetenzen zu ersetzen bedeutet somit einen gravierenden Verlust von Bildung. (vgl. S. 77).
Bildungssysteme, die rein ökonomisch und kompetenzorientiert ausgerichtet sind, werden eine heftige geistige Krise erleben. Denn die Konsequenzen sind mittelfristig das Verschwinden der „Humanities“ – der geisteswissenschaftlichen und musischen Fächer. Es geht nur noch um die einseitige Orientierung von Schule und Studium an den Zielen wirtschaftlicher Verwertbarkeit, um ein Konzept von Bildung also, das eine berufsorientierte Ausbildung mit dem Schwerpunkt in den naturwissenschaftlichen Fächern und in Wirtschaft hat. (vgl. S. 168 f.).
„Das Handeln und Denken der Gegenwart orientiert sich an einem einzigen Parameter: dem Wirtschaftswachstum. Daran wird nicht nur der Erfolg von Gesellschaften gemessen, danach richten sich auch die Investitionen im Bildungsbereich … Das Wirtschaftswachstum beschreibt allerdings nur einen Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung. Andere Dimensionen werden davon weder erfasst noch folgen sie gleichsam naturwüchsig aus der ökonomischen Prosperität: Gesundheit, Glücksfähigkeit, Gerechtigkeitschancen, Ausweitung demokratischer Rechte, Möglichkeiten der Partizipation und Verantwortung, Gleichberechtigung von Individuen ...“ (S. 169). Dies ist dann die „allgegenwärtige Praxis der Unbildung“. (vgl. S. 181).
Anmerkungen aus Sicht eines praktizierenden Pädagogen
Soweit in knappen Thesen die wichtigsten Aussagen von Herrn Liessmann über die gegenwärtigen Reformen im Bildungsbereich. Wie wirken diese Ansätze aus Sicht eines altgedienten Pädagogen? Nachfolgend ebenfalls zehn Anmerkungen:
1.
Die Stimme von Herrn Liessmann war in der Bildungsdiskussion notwendig und für mich persönlich ist sie erfrischend. Sie will aufrütteln und anregen. Sehr zutreffend finde ich die Erkenntnis, dass Schulen immer mehr Gefahr laufen, zu Versuchslaboratorien von gesellschaftlichen Gruppierungen gemacht zu werden, die gar nichts mit der Schule zu tun haben. Die Bildungsexperimente werden tatsächlich und oftmals unnötig auf dem Rücken von Schülern und Lehrern ausgetragen.
2.
Es ist fatal, wenn (Fach)Wissen immer mehr durch bloße Kompetenzfähigkeiten ersetzt wird. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Beides ist gleichermaßen notwendig: fundierte Fachkenntnisse und ihre Anwendungskompetenzen. Beide Prinzipien dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wenn man sich etwa mit der fast ausschließlichen Orientierung an Kompetenzen nur noch auf ein Prinzip versteift, ist dies wie bei einer Monokultur. Irgendwann ist der (Bildungs)Boden ausgelaugt und leer. Mit reinen Kompetenzen als Ziel von schulischer Bildung lügt man sich zudem selbst in die Tasche. Kein Wunder, dass von den Universitäten immer mehr Klagen über das mangelnde fachliche Wissen von Abiturienten kommen.
3.
Die Ausrichtung der Fachlehrpläne auf Kompetenzen, Nützlichkeit und wirtschaftliche Verwertbarkeit tut aus Lehrersicht richtig weh. Denn Jugendliche in ihrer Entwicklung sollten auch in Zukunft die Möglichkeit haben, an einem Ort der Bildung mit der Schönheit und dem Mysterium von Allgemeinwissen, mit geisteswissenschaftlichen, literarischen, musischen und ethischen Themen in Berührung zu kommen, ohne sofort die Nützlichkeit im Blick zu haben.
4.
Herr Liessmann ist Philosoph, kein Lehrer. Er kann es sich leisten, wie ein Adler hoch in den Lüften, das heißt über dem Alltag von Schule, Bildung, Lehren und Lernen zu schweben und mit scharfem Blick zu erkennen, dass in der heutigen Bildungspolitik etwas grundsätzlich schief läuft. Er kann also durchaus zum Nachdenken anregen.
5.
Herr Liessmann sagt aber nichts über den Schulalltag selbst und über die konkrete