Fürstinnen. Eduard von Keyserling

Fürstinnen - Eduard von Keyserling


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Vogel auf sie wie etwas Bekanntes und Hierhergehöriges herabsah. Sie schloß die Augen, sie dachte nicht mehr an das Schloß und an Fräulein von Dachsberg, das alles schien plötzlich unendlich weit, sie dachte an nichts mehr; ein süßes Daseinsbehagen erwärmte ihren Körper, es war ihr, als wiegte sie sich wie die besonnten Tannenwipfel dort oben im Blau sachte hin und her, oder als würde sie wie die kleinen Spinnen an silbernen Fäden sanft geschaukelt.

      Sie wurde von etwas aufgeschreckt, das auf sie niederfiel. Sie richtete sich auf, mißmutig darüber, daß sie gestört wurde. In ihrem Schoß lag ein Paket in eine Zeitung gewickelt, und als sie es öffnete, fand sie darin ein Paar Knabensocken und eine reingewaschene blaue Leinwandhose. Ratlos blickte sie die Gegenstände an, dann legte sie sich zurück und begann zu lachen, lachte so, daß es ihren ganzen Körper schüttelte und ihr warm dabei wurde. Das gab ihr neuen Mut. Gut, es ging auch so. Sie zog die Socken an, schlüpfte in die Leinwandhose, legte darüber ihre nassen Kleider an und trat so aus dem Dickicht hervor. Die drei Knaben empfingen sie ernst, gewaltsam hielten sie ihre Gesichter und ihre Lippen in Zucht. »Nicht wahr, Prinzessin«, sagte Felix zeremoniös, »so geht es auch, etwas anderes war nicht zu haben.«

      »Oh, ich danke«, erwiderte Marie, jetzt wieder ganz Prinzessin, »so ist es sehr gut.«

      Sorgsam wurde sie über den gefährlichen Steg geleitet, und auf dem Gang durch den Wald gab Felix Anleitungen dazu, wie sie ungesehen an das Haus gelangen könnte. Er tat das mit der Sachkenntnis eines, der in verbotenen Unternehmungen wohl bewandert ist. Auf der Wiese begannen sie wieder zu laufen, jagten über die Landstraße hin und hielten vor der Gittertüre des Schloßgartens.

      »Ich danke Ihnen«, sagte Marie jetzt wieder befangen, »es war doch sehr schön.«

      »Das machen wir jetzt öfters«, meinte Felix, dann trennten sie sich.

      Vorsichtig schlich Marie durch die Stachel- und Johannisbeerbüsche, den Buchsbaumhecken entlang, dem Schlosse zu, das noch schweigend in seiner Mittagsruhe dalag. Wäre nicht ihr nasses Kleid gewesen, und die übel zugerichteten Schuhe, sie hätte das eben Erlebte für einen Traum halten können, so unwahrscheinlich erschien es ihr hier mitten in der altgewohnten feierlichen Stille. Ungesehen gelangte sie an die Hintertüre des Schlosses und in ihr Zimmer. Dort klingelte sie nach Alwine, die würde schelten, aber sie nicht verraten. Vordem jedoch zog sie die leinene Hose aus und verbarg sie.

      Alwine kam, und als sie erfahren hatte, was geschehen war, schalt sie sehr heftig: »Eine Prinzessin, die sich mit fremden Jungen im Walde umhertreibt, hat man je so etwas gesehen! Es war eine Schande! Das wird eine schöne Königin geben. Ich möchte das Volk sehen, das solch eine Königin will.« Marie mußte sich zu Bett legen und ruhig liegenbleiben, Alwine wollte draußen sagen, die Prinzessin habe Kopfweh und dürfe nicht gestört werden.

      Als die Alte fort war, schloß Marie die Augen, nein, sie bereute nichts, sie war nur sehr müde und schlief lächelnd ein.

      Marie erwachte heiter und erquickt. Sie mußte sich zuerst darauf besinnen, was denn Besonderes geschehen war, und dann wußte sie es, in ihr einfaches Prinzessinnenleben hatte sich ein Geheimnis, eine lustige Ungeheuerlichkeit, eingeschlichen, die ihr entgegenkicherte, sobald sie daran dachte. Und sie dachte viel daran. Sie dachte daran, wenn der Baron Fürwit sie zum Diner führte, und sie dachte daran während des Essens, mitten in der Feierlichkeit des Eßsaals, vor dem weiß und silbernen Altar des Eßtisches, und dann spürte sie ordentlich wieder den Hauch der Moorerde, des Harzes und der Tannen. Abends ging sie mit Mademoiselle Laure im dunklen Garten auf und ab, und Mademoiselle erzählte von der Pension und den Studenten. Als sie schlafen ging, bat sie Alwine, ein wenig bei ihr zu bleiben, denn sie fürchtete sich allein in dem großen, weißen Zimmer. Es war behaglich, vom Bette aus Alwines friedliches Gesicht, mit der großen Brille über den Strickstrumpf gebeugt und von der Lampe hell beschienen, vor sich zu haben.

      »Alwine«, sagte Marie, »warst du hübsch, als du jung warst?«

      »Das weiß ich nicht«, erwiderte Alwine verdrießlich, »Prinzeßchen soll schlafen.«

      Aber Marie fragte weiter: »Alwine, liefst du auch zuweilen mit fremden Jungen in den Wald?«

      »So was fragen Prinzeßchens nicht«, antwortete die Alte.

      Marie schaute zur Decke empor. Ja, das eigentliche Leben eines jeden sind seine Geheimnisse, das war ihr jetzt klar. Alle hatten sie ihre Geheimnisse, alle, das ganze Schloß war voll davon. Mademoiselle Laure hatte einmal erzählt, wenn sie sich zur Mittagsruhe in ihr Zimmer zurückzieht und ihre Türe verschließt, dann tanzt sie ganz allein für sich oft eine Stunde lang, denn, sagte sie, das Leben hier im Schlosse war kein Leben, »on étouffe«. Ja, das war es, so machten sie es alle, das ganze Schloß mit seinem feierlichen Leben war voll von solchen verschlossenen Türen, hinter denen die Leute heimlich tanzten. Alle taten sie das, der alte Baron Fürwit und das traurige Fräulein von Dachsberg, der Major, die kleine Baronin Dünhof und die Mama - ja, auch die Mama. Und dieser Gedanke erregte Marie so sehr, daß sie mit ihrem ganzen Körper aufschnellte wie eine Forelle im Wasser.

      »Heute sind Prinzeßchen aber schlimm«, brummte Alwine.

      4

      Am nächsten Tage um die Mittagszeit saß Marie auf ihrem Platze unter dem Pflaumenbaum, die Leinwandhose in Papier gewickelt neben sich, und wartete.

      Zuerst kamen Coco und Bruno. Coco drückte seine Nase an die Stäbe des Gitters und rief: »Er kommt nach.« Dann lief er davon und trällerte: »Er hat sich verliebt in 'ne Prinzessin!«

      Marie nahm ihr Paket und stellte sich an der Gittertüre auf.

      Da kam auch schon Felix herangeschlendert, das Badetuch über der Schulter. Er blieb stehen und lachte: »Ist es gut bekommen?« fragte er.

      »Ja, ich danke«, erwiderte Marie, »ich wollte Ihnen dieses hier abgeben.« Sie öffnete die Gittertür und fügte errötend und sehr höflich hinzu: »Wollen Sie nicht ein wenig eintreten?«

      »Hier?« fragte Felix erstaunt.

      »Oh, es sieht uns keiner«, versicherte Marie, »wir müssen nur in die Johannisbeeren gehen.«

      »Das ist etwas anderes«, erwiderte Felix verständnisvoll und trat in den Garten.

      Marie ging voran, um ihm den Weg zu zeigen, mitten in das Dickicht der Stachel- und Johannisbeersträuche hinein. Vor einem großen Johannisbeerstrauche blieb sie stehen und sagte »Bitte hier.«

      Felix mußte sich dort ausstrecken, und Marie setzte sich zu ihm. Beide saßen ernst da wie in einem Besuchszimmer. Um sie her und über ihnen hingen die Zweige voll glasheller, roter Trauben, heiß von der Mittagsonne, und die Büsche waren voll eines leisen Surrens und Klingens, als brodelten und kochten hier in der Hitze all die reifen Früchte. Dazu glitzerte die Luft von unzähligen blanken Flügeln und blitzenden Leibern.

      »Essen Sie Johannisbeeren?« fragte Marie.

      »Ja, die esse ich schon«, erwiderte Felix, und seine braune Knabenhand mit den vielen Rissen und Mückenstichen griff in die Trauben.

      »War das Bad kalt heute?« führte Marie die Unterhaltung weiter.

      Nein, das Bad war nicht kalt gewesen, um diese Zeit war es nie kalt.

      »Können Sie schwimmen?« forschte Marie weiter.

      Ja, Felix konnte schwimmen, sie mußten das in der Kadettenschule lernen. Und nun fragte Felix seinerseits: »Können Sie schwimmen?«

      »Nein«, erwiderte Marie, »ich wollte es lernen, aber der Arzt hat es verboten.«

      »Sind sie kränklich?« erkundigte sich Felix höflich.

      Marie errötete: »O nein«, sagte sie, »nur, weil ich im Winter hustete.«

      Felix zuckte die Achseln: »Ärzte sind immer so ängstlich«, meinte er verachtungsvoll.

      Dann wußten sie eine Weile nichts zu sagen, Felix aß die Johannisbeeren, und Marie betrachtete aufmerksam ihren Gast, diesen Knabenkörper,


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