Fräulein Rosa Herz. Eduard von Keyserling

Fräulein Rosa Herz - Eduard von Keyserling


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erschrocken. »Sie ist vielleicht heftig gewesen. Du darfst ihr das nicht anrechnen. Du selbst hattest vielleicht auch ein wenig Schuld.«

      »Und weißt du, was sie mir gesagt hat?«

      »Gott, ja, liebes Kind.« Herrn Herz war die Situation peinlich.

      »Sie sagte«, fuhr Rosa mit steigender Entrüstung fort, »ich lebe von anderer Leute Barmherzigkeit, ich zahle nur halbes Schulgeld. Das sagt sie vor all den Mädchen, diese Alte!«

      »Sie wird das wohl nicht so gesagt haben. Ich will mit ihr sprechen.« Herr Herz lachte, als handelte es sich um einen unwichtigen Gegenstand. Er streckte beide Hände aus, um Rosas Kopf zu fassen, sie aber wandte ihm den Rücken und kehrte zu ihrem Sessel zurück.

      Herr Herz verbarg seine Hände in seinen Rocktaschen und sah befangen und hilflos drein. Er wandte dem Fenster den Rücken zu, und sein Haupt ward von einer hellen Lichtaureole umgeben. Die weißen Haare flimmerten und ließen unter den dünnen Silberfäden die Kopfhaut hervorschimmern, zartrosenfarben – wie ein Kinderhaupt mit einem Tüllhäubchen bedeckt.

      »Ich gebe zu, liebes Kind«, hub er leise wieder an, »es ist unangenehm, sie sollte so etwas nicht sagen, und ich spreche mit ihr darüber. Aber, da sie nun darauf besteht, daß du diese Fabel lernst, so könntest du sie vielleicht auch lernen. Eine französische Fabel, nicht wahr?«

      Rosa antwortete nicht. »Sie meint es gut mit dir«, fuhr Herr Herz fort. »Gott, wie sie dich verwöhnt hat, als du ganz klein warst! Stundenlang spielte sie mit dir. Um ihretwillen kannst du schon eine Fabel lernen.« Rosa schwieg noch immer und betrachtete gedankenvoll die gelbe Tapete. Da lachte Herr Herz plötzlich auf. Ein lustiger Einfall war ihm gekommen: »Weißt du, mein Kind, wir lernen beide diese Fabel. La Fontaines Fabeln habe ich früher gut gekannt. Sie sind lustig. Damals sprach ich das Französische wie ein Pariser. Wie man das alles vergißt! Gern würde ich's auffrischen. Ah! Du wirst sehen, was für ein schlechtes Gedächtnis ich habe. Wir werden dabei lachen müssen«, und Herr Herz lachte schon jetzt. Rosas Teilnahmslosigkeit aber machte ihn mutiger, er ward ernst und väterlich. Fräulein Schank hatte nicht so ganz unrecht. Manches Wahre lag in dem, was sie gesagt hatte. Es war ihm nicht vergönnt gewesen, ein Vermögen zu erwerben, und manches verdankte er der Wohltätigkeit anderer. Jetzt beklagte er das. Aber, du lieber Gott, in der Jugend, wer denkt da an so etwas! Nun war es zu spät. Drum sollte Rosa lieb und vernünftig sein; sollte es mit der guten Schank nicht verderben, die es trefflich meinte und, wenn Rosa ihr Examen bestanden, ihr eine Stelle als Lehrerin in der Töchterschule verschaffen wollte. Das war auch der Wunsch der Tante Ina gewesen. Für ihn selbst wäre es ein großer Trost, seine Tochter in gesicherter, geachteter Stellung zu wissen, wenn er nicht mehr sein würde. Seine Stimme wurde weich, und er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Der Gedanke an seinen Tod rührte ihn. »Ja – ja! Wenn man deinen alten Papa hinaustragen wird«, wiederholte er; »die Schank, ich hab's selbst gehört, sagte zu deiner guten Tante Ina: ›Wenn die Kleine dich verlieren sollte, Ina, du weißt es, ich bin deine Freundin, ich übernehme deine Pflichten.‹ Dann küßten sich die beiden guten Frauenzimmer und weinten miteinander. Vorhin, als sie bei mir war, und sie war recht aufgebracht, sagte sie doch, sie habe gehört, du hättest ein neues Kleid nötig. Sie sei bereits bei Paltow gewesen und habe einen wohlfeilen, dauerhaften Stoff gefunden. Sie zeigte mir die Probe. Sehr hübsch! Braun, mit runden gelben Punkten, so wie Erbsen ungefähr.«

      »Ah!« versetzte Rosa zerstreut, »ich kenne das. Sie hat ihrer gelähmten Mutter, der ganz alten Schank, solch ein Kleid gekauft.«

      »So? Ich weiß davon nichts. Du wirst ja sehen. Mir hat es gefallen, und sie sagt, es sei wohlfeil und dauerhaft. Mein armes Kind! Teure Kleider kann ich dir ja nicht geben; das weißt du. Wenn ich könnte, ich wollte meine Rosa herausputzen! Aber du bist ja in jedem Kleide hübsch.« Die hellblauen Augen schauten zärtlich zu dem mürrisch daliegenden Mädchen hinüber, und sie wurden feucht von den Tränen, die so leicht die Augen alter Leute überfluten. Er küßte seine Tochter vorsichtig auf den Scheitel und flüsterte: »Komm! Die Agnes ist mit dem Essen fertig.« – »Ah«, meinte Rosa und legte ihren Arm in den ihres Vaters.

      Während des Mahles war Herr Herz äußerst lustig, fast ausgelassen. Er stellte sich ungeschickt beim Vorschöpfen der Suppe, neckte Agnes, erzählte aus seiner Balletttänzerlaufbahn viele seltsame Geschichten, die er schon hundert Mal erzählt hatte, und um das Gespräch von vorhin vollends vergessen zu machen, fügte er ihnen kleine gewagte Ausführungen mit halber Stimme bei, wenn Agnes das Zimmer verließ, um etwas zu holen. Rosa lächelte nur matt. In diesem eigensinnigen blonden Kopf war heute die feste Überzeugung entstanden, dort – irgendwo, fern von der Heimat – läge eine schöne, ergötzliche Welt, der eben nur Rosa fehlt; sie war da, man brauchte nur die Hand auszustrecken, um alles Schöne zu fassen. Bitteren Groll hegte Rosa heute gegen die alte, enge Stube mit ihren lächerlichen Möbeln, ihrem schläfrigen Frieden, Groll gegen die ganze widerwärtige Stadt, selbst gegen ihren Vater, der aus der großen Welt in dieses kleinliche Nest flüchten konnte, um fortan nur für den Klub, für Klappekahl und für Lanin zu schwärmen. Da stand die gute Agnes Stockmaier in ihrem weißen Kleide. So hatte dieses große weiße Gesicht immer dreingeschaut, seit Rosa denken konnte. Diese grauen Augen hatten stets so ruhig vor sich hingeblickt, als wären Augen nur auf der Welt, um zu sehen, ob Staub auf der Kommode liege oder ob das Tischtuch Falten schlüge. Oh, und diese Suppe mit ihren Fettaugen, dieser Braten mit seiner langen Sauce! Rosa hatte sie jahraus, jahrein gegessen; täglich hatten sie die Wohnung mit ihrem Duft erfüllt. Gott ja, es war unerträglich klein, gewöhnlich, lächerlich! Ein Gefühl der Rebellion, der Verachtung alles dessen, was es kannte und besaß, stieg in der Brust dieses jungen Mädchens auf, in dessen Leben das größte Ereignis bisher ein Tanzabend bei Klappekahls gewesen war.

      Rosa mochte nicht ausgehen. Sie wollte bis zum Abend daheim bleiben und sich immer tiefer in ihre unklaren Grübeleien vergraben. Ihr Vater gab sich, wie gewöhnlich, seinem Mittagsschlummer hin; Agnes klapperte beim Abräumen leise mit dem Tischgerät. Rosa lehnte am Fenster, und ihre runden blauen Augen sahen unverwandt hinaus.

      Die Stille des Sommernachmittages war auf das Städtchen niedergestiegen. Am zartblauen Himmel standen glänzende Wolkenhaufen, wie Ballen weißer Wolle. Die Pflastersteine waren so hell beschienen, daß Rosa große Käfer auf ihnen erspähen konnte. Sie krochen langsam dahin, blieben plötzlich, wie sinnend, stehen und hatten runde, stahlblaue Leiber, dann kam eine Eintagsmücke durch den Sonnenschein geflogen.

      Rosa hatte lange hinausgestarrt. Mechanisch und gedankenlos war sie allen Vorgängen draußen gefolgt. Ihre Augen hatten immer starrer vor sich hingeblickt, hatten sich endlich geschlossen, der Kopf war auf den Arm niedergesunken – Rosa schlief, und das blonde Köpfchen im offenen Fenster schien auch ein Stück des trägen Nachmittaggoldes zu sein, das dort auf der Fensterbank liegengeblieben.

      Als ein roter Sonnenstrahl ihre Augen traf, erwachte Rosa. Sie war allein im Gemach; ihr Vater hatte sich leise fortbegeben. Ringsum auf den alten Möbeln und Sachen lag blaßrotes Licht. Von der Straße tönten Stimmen und Schritte herauf. Auf dem Gartenzaune saß des Pfarrers Bube und biß in eine gelbe Frühbirne. Die Kastanienwipfel wiegten sich sachte hin und her. Eine Katze stand ruhig auf einem Dach und schaute über die Stadt hin, während die Sonnenstrahlen zwischen ihren Beinen hindurchschlüpften und ihren Leib vergoldeten. Der weiße Wolkenhügel von vorhin war fort; die Wölkchen waren auseinandergezogen und lagen jetzt verstreut über das tiefe Himmelsblau,

      Es war lustig! – Rosa rieb sich die Augen und dachte darüber nach, was es doch war, das sie vorhin betrübt hatte. Sie entsann sich dessen wohl; aber es erschien ihr jetzt gering. Fräulein Schank, das Kleid mit den gelben Erbsen, die Fabel, ihr alter Vater, das alles war kein Grund, sich ernstlich zu grämen. Brauchte sie denn das enge Leben zu teilen? Gehörte ihre anziehende Person mit den blauen Augen und dem goldenen Haar nicht ihr? Konnte sie denn mit ihrem Leben nicht anfangen, was sie wollte? Was konnte sie nicht alles Tolles, Unerhörtes beginnen. Noch wollte sie warten; sie hatte ja Zeit. Sinnend lehnte sie den Kopf an das Fensterkreuz und lächelte hochmütig. Der Gedanke: ich gehöre mir – mir ganz allein, war plötzlich in diesem leichtfertigen Mädchenhirn aufgeschossen, schüchtern noch und unklar; er war jedoch da mit seiner ganzen wundersamen, gefährlichen Macht.

      Auf der Treppe


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