Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil - Gustav  Schwab


Скачать книгу
Menelaos, als ihn die Rosse, strauchelnd, auf den Boden geworfen und mit dem Wagen unter andern

       herrenlosen Pferden zur Stadt enteilten. Der liegende Feind umschlang die Knie des Fürsten und

       flehte jämmerlich: »Fange mich lebendig, Atride, nimm volle Lösung von Erz und Gold aus dem

       Schatze meines Vaters, der sie dir willig gibt, wenn er mich wieder lebendig umarmen darf!«

       Menelaos fühlte sein Herz im Busen bewegt, da lief Agamemnon heran und strafte ihn mit den

       Worten: »Sorgst du so für deine Feinde, Menelaos? Fürwahr, sie haben es um dich im Heimatlande

       verdient! Nein, keiner soll unserm Arm entfliehen, auch der Knabe im Mutterschoße nicht! Alles, was

       Troja großgezogen hat, soll ohne Erbarmen sterben!« Da stieß Menelaos den Flehenden mit der

       Hand von sich, und Agamemnon durchbohrte ihm den Leib mit er Lanze. Unter den stürmenden

       Argivern hörte man Nestors hallenden Ruf: »Freunde, daß ja keiner, zu Raub und Beute gewendet,

       dahinten bleibe! jetzt gilt es nur, Männer zu töten; nachher könnt ihr gemächlich den Leichnamen die

       Rüstung abziehen!«

       Bald wären jetzt die Trojaner ihrer Stadt überwunden zugeflohen, wenn nicht Helenos, der Sohn des

       Priamos, der kundigste Vogelschauer, sich zu Hektor und Äneas gewendet und so zu ihnen

       gesprochen hätte: »Alles beruht jetzt auf euch, ihr Freunde; nur wenn ihr das flüchtige Volk vor den

       Toren hemmet, vermögen wir selbst noch die Scharen der Danaer zu bekämpfen. Dir, Äneas,

       übertragen die Götter zunächst dieses Geschäft. Du aber, Bruder Hektor, eile gen Troja und sage

       unserer Mutter ein Wort. Sie soll die edelsten Weiber auf der Burg im Tempel Athenes versammeln,

       ihr köstlichstes Gewand auf die Knie der Göttin legen und ihr zwölf untadelige Kühe geloben, wenn

       sie sich der trojanischen Frauen und Kinder und ihrer Stadt erbarmt und den schrecklichen Tydiden

       abwehrt.« Unverdrossen sprang Hektor vom Wagen, durchwandelte ermahnend die Geschwader

       und enteilte nach der Stadt.

       Glaukos und Diomedes

       Auf dem Schlachtfelde rannten jetzt der Lykier Glaukos, der Enkel des Bellerophontes, und der

       Tydide Diomedes aus den Heeren hervor und begegneten voll Kampfgier einander. Als Diomedes den

       Gegner in der Nähe sah, maß er ihn mit den Blicken und sprach: »Wer bist du, edler Kämpfer? Noch

       nie bist du mir in der Feldschlacht begegnet, doch jetzt sehe ich dich vor andern weit hervorragen, da

       du es wagest, dich meiner Lanze entgegenzustellen; denn mir kommen nur Kinder in den Weg, die

       zum Unglücke geboren sind. Bist du aber ein Gott, der sterbliche Gestalt angenommen hat, so

       begebe ich mich des Kampfes. Ich fürchte den Zorn der Himmlischen und verlange nicht ferner nach

       dem Streite mit unsterblichen Göttern. Doch wenn du ein Sterblicher bist, so komm immerhin heran,

       du sollst dem Tode nicht entgehen!« Darauf antwortete der Sohn des Hippolochos: »Diomedes, was

       fragst du nach meinem Geschlecht? Wir Menschen sind wie Blätter im Walde, die der Wind verweht

       und der Frühling wieder treibt! Willst du es aber wissen, so höre: Mein Urahn ist Aiolos, der Sohn des

       Hellen, der zeugte den schlauen Sisyphos, Sisyphos zeugte den Glaukos, Glaukos den Bellerophontes,

       Bellerophontes den Hippolochos, und des Hippolochos Sohn bin ich. Dieser schickte mich her gen

       Troja, daß ich andern vorstreben und der Väter Geschlecht nicht schänden sollte.« Als der Gegner

       geendigt, stieß Diomedes seinen Schaft in die Erde und rief ihm mit freundlichen Worten zu:

       »Wahrlich, edler Fürst, so bist du ja mein Gastfreund von Väterzeiten her, Öneus, mein Großvater,

       hat deinen Großvater Bellerophontes zwanzig Tage lang gastlich in seinem Hause beherbergt; und

       unsere Ahnen haben sich schöne Ehrengeschenke gereicht: der meine dem deinen einen purpurnen

       Leibgurt, der deinige dem meinigen einen goldenen Henkelbecher, den ich noch in meiner

       Behausung verwahre. So bin ich denn dein Wirt in Argos und du der meine in Lykien, wenn ich je

       dorthin mit meinem Gefolge komme. Darum wollen wir uns im Schlachtgetümmel beide mit unsern

       Lanzen vermeiden. Gibt es doch für mich noch Trojaner genug zu töten und für dich der Griechen

       genug! Uns aber laß die Waffen miteinander vertauschen, damit auch die andern sehen, wie wir uns

       von Väterzeiten her rühmen, Gastfreunde zu sein!« So redeten jene, schwangen sich von den

       Streitwagen herab, faßten sich liebreich die Hände und gelobten einander gegenseitige Freundschaft.

       Zeus aber, der alles, was geschah, zugunsten der Griechen lenkte, verblendete den Sinn des Glaukos,

       daß er seine goldene Rüstung mit der ehernen des Diomedes wechselte; es war, wie wenn ein Mann

       gegen neun Farren hundert hergäbe.

       Hektor in Troja

       Hektor hatte unterdessen die Buche des Zeus und das Skäische Tor erreicht. Hier umringten ihn die

       Weiber und Töchter der Trojaner und forschten ängstlich nach Gemahlen, Söhnen, Brüdern und

       Verwandten. Nicht allen wußte er Bescheid zu geben; er ermahnte nur alle, die Götter anzuflehen.

       Doch viele hatten seine Nachrichten in Weh und Jammer versenkt. Jetzt war er am Palaste seines

       Vaters angekommen. Dieser war ein herrliches Gebäude, ringsum mit weithin sich dehnenden

       Säulenhallen geschmückt; im Innern waren fünfzig Gemächer aus glattem Marmor, eins ans andere

       nachbarlich angebaut. Hier wohnten die Söhne des Königes mit ihren Gemahlinnen. Auf der andern

       Seite des inneren Hofes reihten sich zwölf Marmorsäle aneinander, wo die Eidame des Königes mit

       seinen Töchtern hausten. Das Ganze war von einer hohen Mauer umschlossen und bildete für sich

       allein eine stattliche Burg. Hier begegnete Hektor seiner guten Mutter Hekabe, die eben zu ihrer

       liebsten und anmutigsten Tochter Laodike zu gehen im Begriffe war. Die greise Königin eilte auf

       Hektor zu, faßte ihm die Hand und sprach voll Sorgen und Liebe: »Sohn, wie kommst du zu uns aus

       der wütenden Schlacht? Die entsetzlichen Männer müssen uns wohl hart bedrängen, und du kommst

       gewiß, die Hände zu Zeus zu erheben. So verziehe denn, bis ich dir vom lieblichen Wein bringe, daß

       du dem Vater Zeus und den andern Göttern ein Trankopfer darbringen kannst und darauf dich selbst

       mit einem Labetrunk erquicken; denn der Wein ist doch die kräftigste Stärkung für einen müden

       Kämpfer!« Aber Hektor erwiderte der Königin: »Laß mir keinen Wein reichen, geliebte Mutter, daß

       du mich nicht entnervest und ich meiner Kraft vergesse; auch dem Göttervater scheue ich mich mit

       ungewaschener Hand Wein zu spenden; du hingegen geh, von den edelsten Frauen Trojas umringt,

       mit Räuchwerk zu Athenes Tempel, lege der Göttin dein köstlichstes Gewand auf die Knie und gelobe

       ihr zwölf untadelige Kühe, wenn sie sich unser erbarmt. Ich aber will hingehen, meinen Bruder Paris

       in die Schlacht


Скачать книгу