Nick aus der Flasche. Monica Davis
Baum. »Ich hab die älteren Rechte, Tate, also verpiss dich endlich!«
Nick keuchte auf und blieb wie erstarrt an den Stamm gelehnt stehen, die Augen aufgerissen. Dann schnappte er nach Luft und sah an sich herunter.
Julie folgte seinem Blick – und schrie auf. Blut lief unter seinem T-Shirt hervor und versickerte in der Hose.
Sofort war sie bei ihm. »Verdammt, Josh, was hast du getan?« Vorsichtig hob sie das Shirt an und traute ihren Augen nicht: Auf Nicks rechter Seite ragte ein fingerdicker Ast neben seinem Bauchnabel heraus!
»Nein, bitte nicht«, wisperte sie und trat hinter ihn. Ihre Sicht verschwamm, doch nicht, weil es düster im Wald war, sondern von ihren Tränen und dem Grauen, das sich ihr offenbarte. Der abgebrochene Ast hatte sich von hinten durch Nicks Körper gebohrt!
Josh und Martin traten zu ihr.
»Scheiße«, fluchte Josh, fuhr sich durchs Haar und lief davon. Er verschwand im düsteren Wald und ließ sie einfach so zurück. Unfassbar!
»Martin!« Hilflos schaute sie ihren Freund an.
Der schulterte Nicks Gitarre und versuchte, mit zitternden Fingern sein Handy aus der Hosentasche zu bekommen. »Wichtig ist, dass er genau so stehen bleibt, damit er nicht noch mehr Blut verliert«, sagte er mit einer Stimme, die noch panischer klang als ihre.
Julie stellte sich sofort vor Nick, um ihn zu stützen, und er legte die Arme auf ihren Schultern ab. Er atmete stockend und stöhnte dabei. Er musste furchtbare Schmerzen haben.
Hektisch tippte Martin auf dem Handy herum. »Ich ruf einen Krankenwagen!«
»Nein«, krächzte Nick. »Flasche.«
»Deine Flasche?« Hatte sie richtig gehört?
»Darin kann ich heilen«, flüsterte er, wobei er den Kopf zurücklehnte. Sein Gesicht war käseweiß, Schweiß glänzte auf seiner Stirn und er sah aus, als würde er gleich ohnmächtig werden.
»Aber … die Striemen!« Schlagartig erinnerte sie sich an die Male auf seinem Rücken. Die hätten doch auch geheilt sein müssen? Oder waren die Verletzungen sehr tief gegangen?
»Verzauberter Riemen, damit ich länger Schmerzen habe und schlecht heilt«, erwiderte er stockend.
Selbst in diesem Moment wünschte sie Mr. Solomon die Pest an den Hals. Sollten ihm die Maden im Grab die Augen herausfressen! »Halte durch, Nick, ich hole deine Flasche!« Sie überlegte, zu ihrem Fahrrad zu laufen, das nur wenige Meter entfernt stand, aber dann müsste sie Nick loslassen.
»Seid ihr bescheuert?« Martins Stimme überschlug sich. »Er muss sofort operiert werden!«
»Er kann in kein Krankenhaus.« Dort würden sie herausfinden, dass er kein Mensch war. Doch Martin hatte Recht, es musste augenblicklich etwas geschehen. Bis sie mit der Flasche zurückkam, könnte es zu spät sein. »Vertrau uns Martin, Bitte! Nick ist … ein Flaschengeist.«
»Komm mal von deinem Trip runter!«, rief er. »Hier geht’s um Leben und Tod!«
Julie hatte jetzt keinen Nerv, das auszudiskutieren. »Mach ein Foto von ihm. Du wirst ihn darauf nicht sehen!« Verdammt, die Zeit lief ihnen davon!
Erneut wandte sie sich an Nick. »Du hast doch gesagt, du spürst, wo deine Flasche ist, kannst du dich nicht auflösen und hinfliegen?«
»Zu schwach, zu weit weg. Weiß nicht, ob ich das überhaupt kann«, stieß er hervor.
Schwarze Schlieren waberten vor ihren Augen, sie wankte. Bitte, das durfte doch nicht wahr sein. Er war ein Geist, die starben nicht! »Ich rufe Connor an!« Sie holte ihr Smartphone aus der Umhängetasche und tippte hastig auf die eingespeicherte Nummer ihres Bruders.
Der ging auch gleich ran, klang jedoch mürrisch. »Was gibt’s?«
»Con, du musst mir sofort meine Flasche bringen, oder Nick stirbt! Wir sind im Park, am nördlichen Ausgang!«
Schweigen am anderen Ende.
»Bitte, leg nicht auf! Frag Martin, der kann dir das bestätigen.«
»Was bestätigen?«
»Verdammte Scheiße, ich glaub’s ja nicht«, murmelte Martin, wobei er abwechselnd von Nick auf sein Handy schaute. Dann trat er zu Julie und sagte atemlos in ihr Smartphone: »Nick ist ein Geist!«
»Habt ihr was getrunken? Wenn Dad das rausbekommt …«
»Connor, bitte, das ist kein Witz!«
»Wohl eher ein mieser Versuch, um an die Flasche zu kommen. Vergiss es!«
Julie weinte. Ihre Verzweiflung brannte wie Säure in ihrer Seele. »Bitte, Connor, Nick stirbt! Du kannst ein Leben retten!«
Wieder Zögern. Hatte sie endlich seinen Nerv getroffen? Connor wusste, dass sie keine Witze machte, wenn sie auf den Tod seiner Mutter anspielte.
»Ich hole dich nach Hause, aber nur, weil du total hysterisch klingst. Wo bist du noch mal?«
»Am nördlichen Ausgang des Wolfe’s Pond Park. Und denk an die Flasche!«
Erleichtert legte sie auf. »Martin, kannst du am Eingang auf Con warten und ihn herbringen?« Sonst würde er sie im Wald nie finden.
Er legte die Gitarre ab und machte sich sofort auf den Weg, obwohl er reichlich verwirrt aussah.
Nun stand sie allein mit Nick im düsteren Wald. Seine Atmung verlangsamte sich und zum Glück verlor er nicht zu viel Blut. Der Ast in der Wunde wirkte wie ein Stöpsel. Doch es schien, als wäre er kaum noch am Leben.
Während sie dicht bei ihm stand, damit er sich an ihr abstützen konnte, streichelte sie über sein Gesicht. »Halte durch, Con ist gleich da.«
Zitternd öffneten sich seine Lider. »Julie … Du bist die beste Herrin, die sich ein Dschinn wünschen kann.«
»Hör auf so zu tun, als würdest du gleich …« Sie schluchzte auf und schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals. Sie spürte seine Wärme, fühlte schwach den Puls an ihre Wange klopfen. Er war groß und stark – er würde durchhalten!
Bitte, Con, mach schnell …
Als ihr Bruder eine Unendlichkeit später angelaufen kam und sie hörte, wie Martin ihm den Unfallhergang erklärte, atmete Nick kaum noch. Julie zwickte in seinen Oberarm, weil sie sich nicht traute, ihn zu rütteln.
Schwerfällig öffnete er die Lider, sein Blick wirkte entrückt.
»Sie sind da.« Julie wandte den Kopf zu ihrem Bruder. Es war noch dunkler geworden, trotzdem bemerkte sie sofort, dass er die Flasche nicht dabei hatte. Ihre Erleichterung wandelte sich in grenzenlose Panik. »Wo hast du die Flasche?!«, schrie sie, ohne von Nick zu weichen.
Abrupt riss Con die Augen auf, als er den Ast in Nicks Körper stecken sah. »Scheiße! Ihr lasst ihn sterben, nur um an die Flasche zu kommen? Wie stoned seid ihr denn?«
»Denkst du immer noch, das ist ein Erpressungsversuch?« Ihre Stimme schrillte in ihren Ohren. »Jetzt wird er deinetwegen sterben!«
Con versuchte offensichtlich, Ruhe zu bewahren, denn er atmete tief durch, besah sich Nicks Wunde und zog anschließend sein Handy hervor. Julie schlug es ihm aus der Hand.
»Du bist total krank!« Con hob das Telefon auf und ging auf Abstand.
Julie hatte nur noch Augen für Nick. Er würde sterben. Es war entschieden.
Sie hätten doch einen Krankenwagen rufen sollen, verflucht!
Sie stand kurz davor, einen hysterischen Anfall zu bekommen. »Ich wünsche mir deine Flasche herbei, hörst du, Nick!«, brüllte sie in sein Gesicht, da sich seine Augen ständig schlossen. »Das ist ein Befehl, ein Wunsch! Du musst ihn mir erfüllen!« Verdammt, warum hatte sie nicht eher daran gedacht? Weil er zu schwach war, sich aufzulösen?
»Ein Wunsch?«, flüsterte er.