Der Gesellschaftsvertrag. Jean-Jacques Rousseau

Der Gesellschaftsvertrag - Jean-Jacques Rousseau


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dabei beteiligten einzelnen die eine Partei und das Gemeinwesen die andere bilden, für den ich jedoch weder das Gesetz, das zu befolgen, noch den Richter, der zur Fällung des Urteils berechtigt wäre, aufzufinden vermag. Es würde lächerlich sein, sich dann in einem derartigen Falle auf eine ausdrückliche Entscheidung des allgemeinen Willens verlassen zu wollen, die ja doch nur der Beschluß der einen Partei sein kann und folglich für die andere nur eine fremde, einzelne, bei dieser Gelegenheit zur Ungerechtigkeit geneigte und dem Irrtum unterworfene Willensmeinung ist. Ebenso wie der Wille des einzelnen nicht imstande ist, für den allgemeinen Willen einzutreten, verändert seinerseits auch der allgemeine Wille seine Natur, sobald es sich um einen einzelnen Gegenstand handelt, und kann nicht als allgemeiner Wille über einen Menschen oder ein Ereignis ein Urteil fällen. Wenn beispielsweise die Athener ihre Feldherren ernannten oder absetzten, dem einen Ehrenbezeigungen zuerkannten, den anderen Strafen auferlegten und durch eine Menge besonderer Beschlüsse ohne Unterschied alle Regierungsgeschäfte ausübten, so hatten sie im eigentlichen Sinne keinen allgemeinen Willen mehr; sie handelten nicht mehr als Staatsoberhaupt, sondern als Verwaltung. Dies wird freilich scheinbar mit den gewöhnlichen Begriffen in Widerspruch stehen; man möge mir jedoch nur Zeit lassen, die meinigen auseinanderzusetzen.

      Man muß verstehen, daß weniger die Anzahl der Stimmen den Willen verallgemeinert als vielmehr das allgemeine Interesse, die sie vereinigt, denn bei dieser Einrichtung unterwirft sich ein jeder den Bedingungen, die er den anderen auferlegt. Es herrscht ein bewundernswerter Einklang des Interesses und der Gerechtigkeit, der den gemeinsamen Beschlüssen einen Charakter der Billigkeit verleiht, die bei der Erörterung jeder Privatangelegenheit sichtlich verlorengeht, weil kein gemeinschaftliches Interesse vorhanden ist, das die Anschauung des Richters mit der der Partei in Einklang und Übereinstimmung bringt.

      Von welcher Seite aus man auch auf das Prinzip zurückgehen möge, stets gelangt man zu dem Schlusse, daß der Gesellschaftsvertrag unter den Staatsbürgern eine derartige Gleichheit herstellt, daß sich alle auf dieselben Bedingungen hin verpflichten und alle derselben Rechte genießen müssen. Der Natur des Vertrages gemäß verpflichtet oder begünstigt jede Handlung der Staatshoheit, d. h. jede authentische Handlung des allgemeinen Willens, alle Staatsbürger in gleicher Weise, so daß das Staatsoberhaupt lediglich den Körper der Nation kennt und von allen, die ihn bilden, keinen unterscheidet. Was ist denn nun eigentlich eine Handlung der Staatshoheit? Nicht eine Übereinkunft des Höheren mit dem Niederen, sondern eine Übereinkunft des Körpers mit jedem seiner Glieder; sie ist rechtmäßig, weil sie den Gesellschaftsvertrag zur Grundlage hat; sie ist billig, weil alle gleichen Anteil daran haben; sie ist nützlich, weil sie nur auf das allgemeine Beste ausgehen kann und auch dauerhaft, da die Staatskraft und die oberste Gewalt für sie eintreten. Solange die Untertanen nur den in solcher Übereinkunft angenommenen Gesetzen unterworfen sind, gehorchen sie niemand als ihrem eigenen Willen; und die Frage aufstellen, bis wohin sich die gegenseitigen Rechte des Staatsoberhauptes und der Staatsbürger erstrecken, heißt nichts anderes als fragen, bis wie weit sich letztere gegen sich selbst, jeder gegen alle und alle gegen jeden verpflichten können.

      Hieraus ist ersichtlich, daß die oberherrliche Gewalt, so unumschränkt, heilig und unverletzlich sie auch ist, die Grenzen der allgemeinen Übereinkunft weder überschreitet noch überschreiten kann, und daß jeder Mensch über den ihm durch diese Übereinkünfte gebliebenen Teil seiner Güter und seiner Freiheit vollkommen unbehindert verfügen kann, so daß dem Staatsoberhaupte nie das Recht zusteht, einen Untertan stärker als den andern zu belasten, weil dies zu einer Privatangelegenheit wird, deren Entscheidung nicht in seiner Macht liegt.

      Bei Annahme dieser Unterscheidungen ist die Behauptung einer wirklichen Entsagung von seiten der einzelnen im Gesellschaftsvertrage so falsch, daß sich vielmehr eine wesentliche Verbesserung ihrer Lage gegen früher als Folge dieses Vertrages nachweisen läßt. Anstatt einer Veräußerung haben sie nur einen vorteilhaften Tausch gemacht, indem sie für eine unsichere und ungewisse Lebensweise eine bessere und gesichertere, für die natürliche Unabhängigkeit Freiheit, für die Macht, andern zu schaden, ihre eigene Sicherheit und für ihre Kraft, die andere zu überwinden vermochte, ein Recht eintauschten, das die gesellschaftliche Verbindung unbesieglich macht. Sogar ihr Leben, das sie nun dem Staate geweiht haben, wird von demselben beständig geschützt, und was tun sie, wenn sie es zu seiner Verteidigung der Gefahr aussetzen, anderes, als daß sie ihm das von ihm Erhaltene zurückerstatten? Würden sie nicht im Naturzustand dasselbe weit häufiger und mit weit größerer Gefahr tun müssen, wenn sie das zum Lebensunterhalte Nötige unter unvermeidlichen Kämpfen mit Lebensgefahr verteidigten? Im Notfalle müssen allerdings alle für das Vaterland kämpfen, aber niemand braucht auch für sich selbst zu kämpfen. Haben wir also nicht noch Gewinn dabei, wenn wir uns für das, was unsere Sicherheit bildet, einem Teile der Gefahren aussetzen, denen wir uns, sobald uns jene Sicherheit genommen wäre, doch aussetzen müßten?

      5. Kapitel: Vom Recht über Leben und Tod

      Man fragt, wie die einzelnen, die doch kein Recht besitzen, über ihr eigenes Leben zu verfügen, dieses nämliche Recht, das ihnen nicht zusteht, auf das Staatsoberhaupt übertragen können? Die Lösung dieser Frage scheint nur deshalb schwierig, weil sie schlecht gestellt ist. Jeder Mensch ist berechtigt, sein eigenes Leben zu wagen, um es zu erhalten. Hat man je einen Menschen, der sich zum Fenster hinausstürzt, um sich aus einer Feuersbrunst zu retten, eines Selbstmordes schuldig erklärt? Hat man dieses Verbrechen je einem Menschen zur Last gelegt, der im Sturme umkam, obgleich er beim Einschiffen mit der Gefahr eines solchen bekannt war? Der Gesellschaftsvertrag bezweckt die Erhaltung der Gesellschafter. Wer den Zweck will, ist auch mit den Mitteln einverstanden, und diese Mittel lassen sich von einigen Gefahren, ja sogar von einigen Verlusten gar nicht trennen. Wer sein Leben auf Kosten anderer erhalten will, muß es, sobald es nötig ist, auch für sie hingeben. Der Staatsbürger ist deshalb auch nicht länger Richter über die Gefahr, der er sich auf Verlangen des Gesetzes aussetzen soll; und wenn der Fürst ihm gesagt hat: »Dein Tod ist für den Staat erforderlich«, so muß er sterben, da er nur auf diese Bedingung bisher in Sicherheit gelebt hat, und sein Leben nicht mehr ausschließlich eine Wohltat der Natur, sondern ein ihm bedingungsweise bewilligtes Geschenk des Staates ist.

      Die über die Verbrecher verhängte Todesstrafe kann so ziemlich aus demselben Gesichtspunkte angesehen werden. Um nicht das Schlachtopfer eines Mörders zu werden, gibt man seine Einwilligung dazu, selbst zu sterben, wenn man ein solcher werden sollte. Anstatt bei diesem Vertrage über sein Leben zu verfügen, geht man nur darauf aus, es zu schützen; jedenfalls läßt es sich nicht annehmen, daß irgendeiner der Vertragabschließenden im voraus daran gedacht habe, sich hängen zu lassen.

      Überdies wird jeder Übeltäter dadurch, daß er das Gesellschaftsrecht verletzt, infolge seiner Verbrechen zum Aufrührer und Verräter an seinem Vaterlande; durch Übertretung der Gesetze desselben hört er auf, als sein Glied zu gelten, und führt sogar offen Krieg gegen dasselbe. In diesem Falle ist die Erhaltung des Staates mit der seinigen unvereinbar; einer von beiden muß zugrunde gehen, und wenn man den Schuldigen den Tod erleiden läßt, so stirbt er nicht sowohl als Bürger, sondern als Feind. Die Prozeßakten und das Urteil sind die Beweise und die Darlegung, daß er den Gesellschaftsvertrag gebrochen hat und folglich kein Mitglied des Staates mehr ist. Da er sich nun als solches, und wenn auch nur durch seinen Aufenthalt daselbst, anerkannt hat, so muß er als vertragsbrüchig durch Verbannung oder als öffentlicher Feind durch den Tod ausgestoßen werden; denn ein solcher Feind ist keine moralische Person, er ist nichts als ein Mensch, und unter diesen Umständen ist Tötung des Besiegten Kriegsrecht.

      Die Verurteilung eines Verbrechers aber, wird man einwenden, ist eine Privatsache. Geben wir dies zu. Diese Verurteilung steht nicht dem Staatsoberhaupte zu; es ist ein Recht, das er verleihen kann, während er es persönlich nicht ausüben darf. Alle meine Gedanken stehen in geordnetem Zusammenhange, wenn ich auch unfähig bin, sie alle auf einmal auseinanderzusetzen.

      Die häufige Wiederkehr von Todesstrafen ist stets ein Zeichen der Schwäche oder Schlaffheit der Regierung. Es gibt keinen Bösewicht, den man nicht zu irgend etwas tauglich machen könnte. Man besitzt nicht das Recht, jemanden zu töten, nicht einmal des abschreckenden Beispiels wegen, es müßte denn sein Fortbestand gefährlich sein.

      Das Recht


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