An Tagen Des Ewigen Nebels. Ulrich Paul Wenzel
schon da. Ich habe mit Frau Petzold alles geregelt, in drei Tagen sind wir wieder zurück.«
Vera wandte sich von ihrer Tochter ab um. Jetzt bloß nicht noch weitere Einzelheiten mit dem Kind besprechen. Sie hatten sie darauf vorbereitet, ihr gesagt, dass eine Untersuchung notwendig sein würde. Hannah hatte sie nur ungläubig angeschaut, es dann aber verdrängt. Vera war sich die ganz Zeit daüber im Klaren, dass die Aktion in der Ferienzeit wesentlich einfacher und ohne Aufsehen durchzuführen gewesen wäre, aber Rolfs Mission kam unvorhergesehen und jetzt musste alles sehr schnell gehen.
Rolf hatte den Plan des Bundesnachrichtendienstes und die unzähligen Dokumente, die sie fast erschlagen hätte, erst vor zwei Tagen erhalten. Sie waren alles in Ruhe noch einmal durchgegangen, die Flugtickets von Schönefeld nach Budapest, inklusive der hoffentlich nicht benötigten Rückflüge, Hannahs Krankenakten, Überweisungsverfügungen des Krankenhauses, die Reiseanlage der Volkspolizei, die Visa der Ungarischen VR und die Aufnahmebescheinigung der Budapester Klinik. Alles waren, wie sie fand, gelungene Fälschungen. Vera schaute auf die Küchenuhr. In diesem Augenblick, dass wusste sie und daran hatte sie auch die ganze Nacht über gedacht, war Rolf auf dem Weg zum Bahnhof Lichtenberg.
Als Vera und ihre Tochter die S-Bahn am DDR-Zentralflughafen verließen, schnitt ihnen ein eisiger Wind ins Gesicht. Vera schlug den Kragen ihres Mantels hoch und achte darauf, dass Hannahs Mütze vollständig die Ohren bedeckte. Es war 7:22 Uhr. Genug Zeit, der Flug sollte um 9:17 starten. Sie gingen durch den Tunnel und mussten anschließend den langen Weg zum Abfertigungsgebäude des Flughafens nehmen. Es war Rushhour und unzählige Autos waren zum Flughafen oder zu den nahegelegenen Industriebetrieben unterwegs. Vor dem Abfertigungsgebäude standen Taxen und Busse, Menschen kamen mit Gepäck aus dem Gebäude oder eilten hinein. Vera fragte sich, ob sie alles finden würde. Sie war ja noch nie auf einem Flughafen gewesen. Diese erste Flugreise könnte die wichtigste ihres Lebens sein.
Nachdem sie das Gebäude betreten hatten, suchte Vera den Abfertigungsschalter der Interflug. Ihre latente Nervosität, die sie die ganze Woche hindurch in sich getragen hatte, stieg jetzt ins Unermessliche an. Die Menschenschlange war unüberschaubar. Sie stellten sich an und konnten nach einer halben Stunde die Reisetasche auf das Gepäckband legen. Die Interflug-Mitarbeiterin war freundlich und wünschte eine gute Reise, nachdem sie Vera die Ausweise, Flugtickets und die Bordkarten zurückgegeben hatte und ihnen den Weg zur Passkontrolle wies.
Vera warf einen letzten wehmütigen Blick durch die getönten Fenster des Gebäudes nach draußen, ein letzter Blick auf ihre Heimat, die sie lieber unter anderen Umständen verlassen hätte und die sie, auch das war ihr noch einmal schmerzlich bewusst geworden, nie wieder sehen würde. Dann nahm sie Hannah an die Hand und ging zur Passkontrolle. Sie spürte ihr rasendes Herz.
»Sie reisen also in die Ungarische VR um ihre Tochter operieren zu lassen?«, fragte der Grenzbeamte fast beiläufig, während er mit ernstem Gesichtsausdruck die Reisedokumente sichtete. »Ist das denn bei uns nicht möglich? Wir haben doch gute Polikliniken und Ärzte.«
»Nein«, antwortete Vera knapp und umklammerte Hannahs Hand. »Es ist eine Spezialklinik in Budapest. Die Ärzte haben uns dorthin überwiesen.« Lass es vorübergehen, flehte sie innerlich. Gib uns die Dokumente zurück.
»Sie bleiben eine Woche, ja?« Der Grenzbeamte stempelte mit einem lauten Klacken zwei Dokumente.
»Falls keine Komplikationen auftreten. Ich hoffe, dass wir in einer Woche zurück sind.«
Vera registrierte, wie der Blick des Grenzbeamten auf einem seitlich rechts von ihm gelegenen Punkt verweilte. Sie spürte in diesem Augenblick eine unerträgliche Hitze, die sich rasend in ihrem Köper ausbreitete. Mach schon! Nach einer gefühlten Ewigkeit reichte der Grenzbeamte die Dokumente über den Tresen zurück.
Gott sei Dank, dachte Vera erleichtert. Und jetzt zum Flugzeug!
Der Grenzbeamte drückte den Türöffner. Die Tür sprang auf, als Vera dagegen drückte. Vera schob Hannah durch die Tür, während sie noch einmal die Dokumente sichtete. Die Pässe! Wo sind die Pässe? Sie wollte zurück, als sie die schneidende Stimme des Grenzbeamten traf.
»Würden Sie sich bitte mit ihrer Tochter zu der Tür rechts begeben, Frau Adling, wir haben noch ein paar Fragen zur Klärung eines Sachverhaltes.«
Vera erschrak. Sie spürte, wie ihre Knie nachzugeben drohten. Mit aschfahlem Gesicht ging sie, die Hand ihrer Tochter fest umklammert, in die angewiesene Richtung, wo sie von einem weiteren Grenzbeamten erwartet wurde.
7
Ostberlin, DDR, November 1984
Der graue Lieferwagen mit der Aufschrift Backwaren passierte die Kontrollstelle zum Sperrgebiet an der Genslerstraße und bog nach einigen hundert Metern rechts in eine unauffällige Einfahrt ab. Vor dem hellblauen Tor eines wuchtigen, durch Mauern und Wachtürme gesicherten, Gebäudekomplexes hielt er an. Nachdem sich das Tor fast lautlos geöffnete hatte, fuhr der Lieferwagen hinein, passierte verschiedene schmale Gassen und stoppte in einer spärlich beleuchteten Garage, direkt vor dem Eingang eines grauen Gebäudes. Die Fahrzeugtüren wurden von außen geöffnet. Zwei Männer in blauen Uniformen nahmen Vera Adling in Empfang und führten sie durch die kleine Tür in das Gebäude und anschließend einen Gang entlang, der an beiden Seiten von unzähligen kleinen, verriegelten Türen gesäumt war. Gefängnis, schoss es Vera Adling durch den Kopf, sie befand sich in einem Gefängnis. Am Ende des Ganges leuchtete ein rotes Licht. Wie sie später erfuhr, wurde damit signalisiert, dass ein Gefangener den Gang entlanggeführt wurde und alle Zellen verschlossen bleiben mussten. Nach kurzer Zeit erreichten sie einen kleinen Raum mit einem Tresen, hinter dem ein korpulente Uniformierter mit aufgestützten Armen wartete. Sie musste alle Wertsachen, Geld, Uhr und den Ehering abgeben, einen zweiseitigen Bogen mit Fragen zu ihrer Person ausfüllen und wurde dann in einen weiteren Raum geführt, wo der Uniformierte Porträtfotos von ihr anfertigte. Anschließend gab er ihr ein Bündel mit Kleidungsstücken und Filzschuhe und die beiden Uniformierten, die sie begleiteten, führten sie aus dem Raum. Sie passierten einen großen Hof, der von einförmigen grauen Gebäuden gesäumt wurde und durch kreisförmig arrangierte, um diese Jahreszeit jedoch nur Trostlosigkeit verbreitende Rosensträucher auffiel. Über einen Flur eines angrenzenden Gebäudes erreichten sie einen weiteren Raum, in dem sich außer einem Schreibtisch nur noch eine Liege und ein Stuhl befanden. Es roch nach Desinfektionsmittel. Nach der Ewigkeit einer halben Stunde, in der Vera Adling in der Mitte des Raumes warten musste, öffnete sich die Tür zu einem Nebenraum. Eine Ärztin in einem weißen Kittel, mit kurzen, dunkelblonden Haaren und einer Hornbrille, kam mit forschem Schritt herein, setzte sich ohne Vera eines Blickes zu würdigen an den Schreibtisch und begann in der Mappe zu blättern, die einer der beiden Uniformierten dort abgelegt hatten.
»Ziehen Sie sich aus«, sagte sie unvermittelt und mit schneidender Stimme, die Vera zusammenfahren ließ. Zögerlich begann sie, ihre Hose aufzuknöpfen und hielt inne.
»Würden Sie bitte die beiden Herren hinausschicken, wenn ich mich ausziehe.«
»Sie sollen nur tun, was ich Ihnen gesagt habe«, zischte die Ärztin und fixierte sie durch ihre schwarze Brille. »Ausziehen, und zwar alles!«
Die beiden Uniformierten schmunzelten, als Vera Adling ihre Hose auszog.
»Alle Sachen dort auf den Stuhl!«, befahl die Ärztin. Vera legte die Hose auf den Suhl und zog sich den Pullover über den Kopf. »Ich würde mich gerne ausziehen ohne dabei angestarrt zu werden.«
Die Ärztin warf den Kopf hoch, ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Sie sollen das machen, was ich Ihnen sage, verdammt noch mal«, bellte sie, »sonst lass ich sie von den beiden Herren hier entkleiden. Vielleicht gefällt Ihnen das ja besser.«
Einer der beiden Uniformierten lächelte in sich hinein und bewegte genüsslich seine Lippen. Na gut, dachte Vera trotzig, vielleicht brauchen diese verklemmten Typen ja die Abwechslung. Sie öffnete ihren BH, nahm ihn ab und zog sich anschließend die Unterhose aus. Sie warf beide Teile auf den Stuhl und blieb,