Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig Bechstein
Attich diesem sein Kind zum Ehegenoß
und gebot Ottilien, sich nicht länger zu weigern.
Das erschreckte die fromme Jungfrau gar sehr, sie
suchte Trost und Rettung im Gebet und fand endlich
einen Ratschluß, welcher kein anderer war als schnelle
Flucht. Da nun der Bräutigam am Morgen angeritten
kam, war die Braut abhanden und nirgend zu finden.
Boten ritten und liefen wohl im Vogesengebirge
umher und auf und ab all um den Rhein, und keiner
fand Herrn Attichs Tochter, bis nach dreien Tagen
endlich die Kunde kam, Ottilia sei in einem Schifflein
über den Rhein gefahren, mutterseelenallein, und
mochte wohl ein Engel ihr Ferge gewesen sein. Da
forschten nun ihr Vater und der Graf gar fleißig nach
ihr und waren weit aus und kamen bis gen Freiburg
im Breisgau, und als sie dort im Tale ritten, sahen sie
auf einmal auf einer Bergeshöhe die Jungfrau wandeln
und sprengten eilend hinan. Wie nun Ottilia ihre ihr
schon nahen Verfolger erkannte, erschrak sie heftig
und rief den Himmel um seinen Schutz an, und da sie
an eine Felswand kam, die ihre Schritte gänzlich
hemmte, da tat vor ihr die Wand sich auf und schloß
sich wieder hinter ihr zu. Aus dem Felsen aber rieselte
alsbald ein klarer Wasserquell, und die Verfolger
standen davor und wußten nicht, wie ihnen geschehen
war.
Nun begann Herr Attich, aufs neue in sich zu
gehen, seufzte nach der Tochter, blieb an der Quelle
und rief dem starren Fels das Gelübde zu, wenn Ottilia
wieder zu ihm komme, so wolle er an diesen Ort
eine Kapelle bauen und aus seiner Burg ein Kloster,
und das mit reichem Gut begaben. Solches alles geschah,
und der Brunnen aus dem Fels ward der Ottilienbrunnen
geheißen und übte wundersame Kraft an
kranken Augen. Ottilia aber wurde Äbtissin des neuen
Klosters, pflegte und heilte Kranke, ward ein Schutzengel
des ganzen Gaues, ließ an den Bergesfuß noch
ein Kloster, Niedermünster, bauen, und als sie endlich
sanft und selig verschieden, ist sie heilig gesprochen
worden und ward die Patronin der Augen und von
Augenleidenden insonderheit angerufen.
36. Vater und Sohn
Es war ein Graf im Oberelsaß, Herr Hug von Egisheim,
dem gebar sein Ehegemahl einen Sohn, der
ward Bruno genannt in der heiligen Taufe. Aber ein
böser Argwohn umdüsterte des Grafen Herz, als sei
das Söhnlein nicht sein eigen, und da befahl er einem
Knecht, daß er es hinaustrage in den Wald, es töte
und ihm sein Herz, der Tat zum Zeugen, darbringe.
Den Knecht aber jammerte des unschuldigen Kindleins,
und konnte solchen Mord nicht über das eigene
Herz bringen. Er gab das Kind in sichere Hut, erlegte
ein Rehkälbchen und brachte dessen Herz seinem
grausamen Herrn. Der Knabe erwuchs und kam weit
hinweg, die Jahre vergingen, und über den alten Grafen
kam die Reue, denn es war ihm klar und offenbar
geworden, daß er damals im Irrwahn befangen die
schrecklichste Sünde begangen hatte. Und da litt es
ihn endlich nicht länger mehr in der Heimat, er verließ
seine Schlösser und sein Land und ging in Pilgertracht
über die Alpen und wandelte gen Rom, dem
Heiligen Vater seine schwere Schuld zu bekennen und
eine Buße sich auferlegen zu lassen. Und er kam zum
Papste und kniete zu dessen Füßen und beichtete sein
Verbrechen und flehte zerknirscht um Entsündigung.
Da erhob sich von seinem Thronsitz der Heilige Vater
und sprach: Graf Hugo von Egisheim! Der allbarmherzige
Gott hat nicht gewollt, daß Bruno, dein Sohn,
sterbe, sondern hat ihn aufbehalten zu hohen Dingen.
Und Gott verzeiht dir durch mich, den Knecht seiner
Knechte, den grausamen Vorsatz. Deine Reue soll
deine Buße gewesen sein. Stehe auf, Graf Hugo, umarme
mich, ich bin es, der dir Verzeihung kündet, ich
bin Bruno, dein Sohn, Leo der Neunte geheißen auf
St. Petri heiligem Stuhle! – Dem alten Grafen war, als
ob er träume, als ob der Himmel sich ihm erschließe.
37. Die Münsteruhr
Zu Straßburg im Münster ist ein kostbar und verwunderungswürdiges
Uhrwerk, das seinesgleichen in der
ganzen Welt nicht hat. Hoch und stolz, ein wundersames
figurenreiches Gebäu, steht es da vor Augen,
aber leider steht es eben und geht schon längst nicht
mehr. Im Piedestal zeigt sich neben einem Himmelsglobus
ein Pelikan, darüber erhebt sich ein Kalender,
in dessen Mitte die Erdkugel ersichtlich ist, zu beiden
Seiten stehen der Sonnengott und die Mondgöttin,
welche mit ihren Pfeilen Tages- und Nachtstunden
zeigen. Schildhalter an den vier Winkeln des Kalendariums
lassen Wappen erblicken. Darüber fuhren in
Wagen, von verschiedenen Tiergespannen gezogen,
die sieben Planetengötter als Tagesboten, jeden Tag
zeigte sich sanft vorrückend ein anderes Gespann,
stand in der Mitte zur Mittagsstunde und gab dann
allmählich dem nachfolgenden Raum. Darüber ein
großer Viertelstundenzeiger und zur Seite vier Gebilde,
die Schöpfung, Tal Josaphat, Jüngstes Gericht
und Verdammnis. Zur Rechten des Beschauers steht
ein freier Treppenturm am Uhrgebäu, zur Linken ein
ähnlicher von anderer Form mit Göttergestalten, auf
der Spitze ein großer Hahn, welcher die Stunden
krähte und mit den Flügeln schlug. Am Sockel der
Türme halten zwei große aufrechtsitzende Löwen je
einer den Helm mit dem Kleinod, der andere das
Wappenschild Straßburgs. Recht in der Mitte ist das
riesiggroße mannigfach verzierte und mit kunstvollem
Triebwerk versehene Zifferblatt, umgeben von den
Bildern der vier Jahreszeiten, darüber