Die Bauern. Anton Tschechow
zum Abhang.
Am Abhang traf sie die ältere Tochter Marjas, Motjka, die unbeweglich auf einem großen Stein stand und auf die Kirche starrte. Marja hatte schon dreizehnmal geboren, es waren ihr aber nur sechs Kinder geblieben, lauter Mädchen, kein einziger Junge, und die Älteste war acht Jahre alt. Motjka stand barfuß in langem Hemd auf dem Stein, die Sonne brannte ihr auf den Scheitel, sie merkte es aber nicht und war wie erstarrt. Sascha stellte sich neben sie hin und sagte mit einem Blick auf die Kirche:
»In der Kirche wohnt der liebe Gott. Bei den Menschen brennen Lampen und Kerzen, bei Gott aber kleine Lämpchen, rot, grün, blau wie die Äuglein. Nachts geht Gott in der Kirche herum, und mit ihm die heilige Mutter Gottes und der heilige Nikolai ... Dem Kirchenwächter ist es ganz bange, wenn er sie herumgehen hört! Ja, ja, meine Liebe,« fügte sie hinzu, ihre Mutter nachahmend. »Und wenn der Jüngste Tag kommt, fliegen alle Kirchen in den Himmel hinauf.«
»Mit den Glocken?« fragte Motjka mit ihrer Bassstimme, jede Silbe dehnend.
»Mit den Glocken. Am Jüngsten Tag werden aber die Guten in's Paradies kommen, und die Bösen im ewigen Feuer brennen, meine Liebe. Meiner Mutter und der Marja wird Gott sagen: Ihr habt niemand was zu Leide getan, und darum dürft ihr nach rechts ins Paradies gehen; zu Kirjak und zur Großmutter wird er aber sagen: geht nach links ins Feuer. Und wer am Fasttag Fleisch oder Milch gegessen hat, der kommt auch ins ewige Feuer.«
Sie blickte mit weit aufgerissenen Augen zum Himmel empor und sagte:
»Schau in den Himmel, ohne zu zwinkern, dann kannst du die Engel sehen.«
Motjka sah nun auch auf den Himmel, und eine Minute verging in Schweigen.
»Siehst du sie?« fragte Sascha.
»Ich sehe nichts,« antwortete Motjka mit ihrem Bass.
»Ich sehe sie aber. Kleine Engelchen fliegen durch den Himmel und bewegen die Flügelchen wie kleine Mückchen.«
Motjka blickte zu Boden, dachte eine Weile nach und fragte:
»Wird Großmutter brennen?«
»Gewiß, meine Liebe.«
Der steil abfallende Boden war vom Stein bis ans Ufer mit weichem grünem Gras bewachsen, und man hatte Lust, das Gras mit der Hand zu streicheln oder darauf zu liegen. Sascha legte sich hin und rollte hinab. Auch Motjka legte sich mit ernstem, strengem Gesicht auf das Gras und rollte pustend hinab. Ihr Hemd rutschte dabei bis zu den Schultern hinauf.
»Wie lustig!« rief Sascha entzückt.
Als sie wieder hinaufgingen, um noch einmal hinunterzurollen, erklang oben die bekannte kreischende Stimme. Dieses Entsetzen! Die zahnlose, knochige, bucklige Großmutter mit den kurzen grauen Haaren, die im Winde flatterten, trieb mit dem langen Stecken die Gänse aus dem Gemüsegarten und schrie:
»Den ganzen Kohl haben sie zerstampft, die Verfluchten! Krepieren sollt ihr, dreimal Verdammten, die Pest komme über euch!«
Als sie die Mädchen erblickte, warf sie ihren Stecken weg, ergriff eine lange Rute, packte Sascha mit ihren trockenen und harten Fingern am Hals und begann sie zu schlagen. Sascha weinte vor Schmerz und Angst; der Gänserich ging mit gerecktem Hals wackelnd auf die Alte zu, zischte ihr etwas vor und kehrte zu seiner Herde zurück, und alle Gänse begrüßten ihn mit beifälligem Geschnatter. Die Großmutter nahm dann Motjka vor, der das Hemd wieder hinaufrutschte. Sascha ging ganz verzweifelt, laut weinend ins Haus, um sich zu beklagen; ihr folgte Motjka, die gleichfalls weinte, doch im Bass; sie wischte sich die Tränen nicht ab, und ihr Gesicht war so naß, als ob man sie ins Wasser getaucht hätte.
»Lieber Gott!« rief Olga erstaunt, als die beiden in die Stube traten. »Heilige Himmelskönigin!«
Sascha begann zu erzählen, in diesem Augenblick kam aber auch die Großmutter kreischend und fluchend in die Stube, auch Fjokla begann zu schimpfen, und die Stube füllte sich mit Geschrei.
»Macht nichts, macht nichts!« tröstete Olga, blaß und erregt, ihrer Tochter den Kopf streichelnd. »Sie ist ja deine Großmutter, und es ist Sünde, ihr zu zürnen. Macht nichts, Kind.«
Nikolai, der vor diesem ewigen Geschrei, Hunger, Ofendunst, Gestank noch mehr heruntergekommen war, der die Armut haßte und verachtete und sich vor seiner Frau und Tochter für seine Eltern schämte, ließ die Beine vom Ofen hinunterhängen und wandte sich mit gereizter, weinerlicher Stimme an die Mutter:
»Sie dürfen sie nicht schlagen! Sie haben gar kein Recht, sie zu schlagen!«
»Krepier nur dort oben auf dem Ofen!« schrie ihm Fjokla gehässig zu. »Was hat euch auch der Teufel hergebracht, ihr Fresser??!«
Sascha, Motjka und alle Mädchen, die in der Stube waren, verkrochen sich in die Ofenecke hinter Nikolais Rücken und hörten schweigend, voller Angst zu, so daß man ihre kleinen Herzen klopfen hörte. Wenn es in einer Familie einen Schwerkranken gibt, dessen Zustand hoffnungslos ist, so kommen manchmal Augenblicke, wo alle Angehörigen schüchtern und heimlich, in der Tiefe ihrer Seelen seinen Tod wollen; und nur die Kinder allein fürchten den Tod des ihnen nahestehenden Menschen und erzittern beim Gedanken, daß er sterben könnte. Die Mädchen sahen atemlos, mit traurigen Augen Nikolai an, dachten daran, daß er bald sterben müsse, und wollten weinen und ihm irgend etwas Freundliches oder Tröstendes sagen.
Er schmiegte sich an Olga, wie wenn er bei ihr Schutz suchte, und sagte leise, mit zitternder Stimme:
»Olja, liebe Olja, ich kann nicht mehr. Es geht über meine Kraft. Um Gottes willen, um Christi willen, schreib deiner Schwester Klawdija Abramowna, sie möchte alles, was sie hat, verkaufen oder versetzen und uns das Geld schicken, und wir gehen von hier weg. Mein Gott!« fuhr er traurig fort: »ach, wenn ich doch nur einen einzigen Blick auf Moskau werfen könnte! Wenn es mir wenigstens im Traum erscheinen wollte!«
Als aber der Abend anbrach und es in der Stube finster wurde, wurde es allen so trübe zumute, daß niemand mehr sprechen konnte. Die böse Großmutter weichte sich einige Brotrinden in Wasser auf und sog an ihnen lange, eine ganze Stunde. Marja molk die Kuh und brachte den Eimer mit der Milch in die Stube; die Großmutter goss lange, ohne Übereilung die Milch aus dem Eimer in die Krüge um und schien sehr zufrieden, daß heute, am Fasttage vor Mariä Himmelfahrt niemand die Milch anrühren und so der ganze Vorrat bleiben würde. Nur ein klein wenig tat sie in eine Untertasse auf die Seite für Fjoklas Jüngstes. Als sie und Marja die Milchkrüge in den Keller hinuntertrugen, fuhr Motjka plötzlich auf, sprang vom Ofen herunter, ging zur Bank, wo die Holzschale mit den Brotrinden stand, und tat etwas Milch aus der Untertasse hinein.
Die Großmutter kam zurück und machte sich wieder an ihre Brotrinden; Sascha und Motjka sahen ihr vom Ofen herab zu und freuten sich, daß sie den Fasttag verletzte und nun ganz gewiß in die Hölle kommen würde. So trösteten sie sich und legten sich schlafen. Sascha stellte sich im Einschlafen das Jüngste Gericht vor: es brannte ein großer Ofen, einem Töpferofen ähnlich, und ein schwarzer Teufel mit Kuhhörnern trieb die Großmutter mit einem Stecken ins Feuer, genau so wie sie vorhin die Gänse getrieben hatte.
5
Am Tage Mariä Himmelfahrt, gegen elf Uhr abends erhoben die Mädchen und Burschen, die unten auf der Wiese spazierten, plötzlich ein Geschrei und rannten ins Dorf hinauf; diejenigen aber, die oben am Rande des Abhanges saßen, konnten im ersten Augenblick gar nicht verstehen, was los war.
»Es brennt! Es brennt!« schrie man unten verzweifelt: »Das Dorf brennt!«
Die oben saßen, sahen sich um und erblickten ein schreckliches, ungewöhnliches Bild. Auf dem Strohdache eines der letzten Häuser stand eine Feuersäule, einen Klafter hoch, und warf wie eine Fontäne nach allen Seiten Funken um sich. Gleich darauf brannte auch das ganze Dach lichterloh, und man hörte deutlich das Knistern des Feuers.
Der Mondschein verdunkelte sich, und das ganze Dorf war von einem roten, zitternden Licht übergossen; über die Erde huschten schwarze Schatten, und es roch nach Gebranntem; die von unten gelaufen kamen, waren ganz atemlos, zitterten so, daß sie kein Wort aussprechen konnten, stießen sich an, fielen