Scarlett Taylor - Wendy. Stefanie Purle
Picknick ab, aber ich finde nichts. Doch als ich ein paar Meter weiterlaufe, entdecke ich etwas abgelegen vom Ufer eine Stelle zwischen ein paar Bäumen, wo das Gras niedergedrückt ist und in dessen Mitte ein paar verkohlte Holzscheite liegen. Als ich näherkomme, entdecke ich auch leere Bierdosen, die achtlos ins Gebüsch geworfen wurden, dazu die aufgerissene Verpackung von Schokoriegeln und einen leeren Pizzakarton. Verärgert hebe ich den Müll auf und klemme ihn mir unter den Arm. Dann hocke ich mich neben die Feuerstelle und halte die Hand darüber. Es ist noch warm, also wird es von vergangener Nacht stammen.
Ich lasse den Blick weiter suchend umherschweifen, als ich an einem Baum ein eingeritztes Pentagramm entdecke. Ein verärgertes Schnauben dringt durch meine Nasenlöcher. Nicht nur, dass der Künstler diesen Baum einfach als Leinwand missbraucht und ihn somit verletzt hat, es handelt sich auch noch um ein umgedrehtes Pentagramm, eines, das den Gehörnten symbolisiert, mit zwei Sternspitzen nach oben!
Ich lege den Müll für einen Moment beiseite und gehe zum Baum. Als ich meine Hand auf seine Wunde lege, kann ich seinen Schmerz spüren. Mit geschlossenen Augen fühle ich an dem Schmerz vorbei und suche nach der Intention, die hinter diesem Symbol steckt. Was wollte der Schnitzer erreichen? Schutz? Eine Opfergabe für den Gehörnten? Oder war es einfach nur eine dumme Spielerei, ohne wirklichen Hintergrund?
Bilder von Jugendlichen dringen in meinen Kopf. Der Baum lässt mich in kurzen, blitzartigen Bildern sehen, was er selbst gesehen hat: Vier Teenager, ein Feuer. Ein rostiges Taschenmesser, Kerzenschein, Gelächter, und dann die Schnitte durch die dicke Rinde hindurch.
Ich zucke zusammen beim Erleben des Schmerzes und öffne die Augen wieder. Der Junge, der das umgedrehte Pentagramm in die Rinde dieses Baumes geritzt hat, hatte kein größeres Ziel im Auge. Er tat es, um ein Mädchen zu beeindrucken, das mit dabei war.
Sanft fahre ich mit den Fingerspitzen über die Wunde. Ich konzentriere mich und schicke heilende Energie in die Schnitte. Voller Bewunderung sehe ich zu, wie unter meinen Fingerspitzen hölzernes Narbengewebe entsteht und die Schnitte verschließt. Innerhalb weniger Sekunden ist das Pentagramm verschwunden. Der Baum atmet erleichtert auf, seine Blätter rascheln und ein harziger Geruch steigt in meine Nase.
Ich wünschte, ich könnte dasselbe mit meiner Narbe machen.
Nachdem ich meinen Rundgang um den See beendet habe, ohne dabei wirklich eine Ursache für die seltsame Melancholie des Wassers oder der Herkunft der gruseligen Stimme zu finden, klemme ich mir den Müll unter den Arm und gehe wieder hoch zum Anwesen. Wenn ich mich vor meinem Rundgang auch noch davon hätte überzeugen lassen, dass ich mir die Trauer des Sees nur einbilde, so bin ich mir doch nach meinem Rundgang sicher, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Ich habe keine Menschenseele am Ufer oder im umliegenden Wald bemerkt, von der diese Stimme hätte kommen können. Selbst meine Hexen- und Druideninstinkte zeigten an, dass ich alleine war. Weder Mensch, noch Tier war mit mir zusammen am See, und das macht die ganze Sache noch seltsamer. Normalerweise bin ich dort unten nie alleine. Die Tiere des Waldes suchen meine Nähe, auch wenn sie immer gebührenden Abstand halten. Auch Queenie, mein Schutzgeist in Form eines Albino-Eichhörnchens, war nicht bei mir. Dabei hält sie sich immer in meiner näheren Umgebung auf, wenn ich draußen bin.
Erst, als ich schon fast wieder beim Haus bin, höre ich die Vögel in den Baumwipfeln zwitschern und ein leises Grillenzirpen aus einiger Entfernung. Ich gehe in die offenstehende Garage und sortiere den Müll in die Tonnen, als ich einen weißen Fleck im Augenwinkel bemerke. Es ist Queenie, die an dem Busch neben den Garagentor emporklettert und dann an den dünnen Birkenstamm daneben springt. Sie hält sich an der weißen Rinde fest und schaut mit ihren kleinen Knopfaugen zu mir herüber, während ihr Schwanz frech hin und her zuckt.
„Hey, Queenie, meine Süße“, begrüße ich das zierliche Tier, schließe die Mülltonnen und laufe auf sie zu. Ich strecke den Arm nach ihr aus und als meine Fingerspitzen sie fast berühren, schnuppert sie daran. „Hast du Hunger?“, frage ich, obwohl ich noch nie erlebt habe, dass dieses kleine, verfressene Tier mal nicht hungrig war.
Ich greife mit der freien Hand in meine Hosentasche und hole eine Nuss hervor. Queenie springt vom Birkenstamm auf meinen Arm, klettert auf meine Schulter und schlüpft unter meine Haare. Ihr borstiges Fell kitzelt mich im Nacken. Ich hebe die Nuss an ihr kleines Maul neben meinem Gesicht, sie nimmt es mit ihren zarten Fingern entgegen und beginnt daran zu nagen.
Nachdem Queenie auch die letzte Nuss aus meiner Hosentasche vertilgt hat, springt sie von meiner Schulter herunter, klettert am Efeu neben dem Garagentor empor und flitzt hoch bis auf das Hausdach. Ich gehe währenddessen hinein und beginne die Einkäufe wegzuräumen. Während ich das tue, nehme ich mein Handy und rufe Fletcher an, der auch im Wald wohnt. Er ist selbst eine Hexe und war einmal mein Mentor. Von ihm habe ich die Grundlagen der Magie gelernt. Er wohnt im Sommer in einem Wohnwagen auf einer kleinen Lichtung, gut fünfzehn Minuten Fußmarsch von Chris´ Anwesen entfernt. Ich bitte ihn, sich den See auch einmal anzuschauen und erkläre ihm mein seltsames Gefühl und die Melancholie, die in dem dunklen Wasser zu sein scheint. Von der unheimlichen Stimme erzähle ich nichts. Zum einen möchte ich ihn nicht ängstigen, obwohl er dem Ganzen wahrscheinlich sehr wohl gewachsen ist, zum anderen kommt es mir aber jetzt selbst ziemlich wirr und vage vor. Habe ich sie wirklich gehört, oder habe ich es mir nur eingebildet? Vielleicht war es auch nur ein Mensch, der sich einen Scherz erlaubt hat, und meine Sinne haben ihn aufgrund des Schreckens nur nicht wahrgenommen.
Fletcher verspricht mir, sich am Nachmittag zum See aufzumachen. Sobald er sich einen Eindruck verschafft hat, wird er sich bei mir melden. Das ist alles, was ich in diesem Moment tun kann. Ich kann nicht alle Termine absagen und das ganze Parapsychologen-Team herbeirufen, nur weil ich ein seltsames Gefühl habe. Also versuche ich mich stattdessen auf den heutigen Abend zu konzentrieren. Ich räume Küche, Esszimmer und Wohnzimmer auf, schüttle die Kissen vom Ledersofa aus und poliere den Mahagonietisch mit Möbelpolitur, während das Backofenspray im Ofen einweicht. Dann reiße ich alle Fenster auf und lüfte kräftig durch, schrubbe Ofen und Herd und gehe sogar nach draußen, um einen kleinen Blumenstrauß zu pflücken, den ich auf dem frisch polierten Tisch im Esszimmer platziere.
Eine Weile debattiere ich gedanklich darüber, wo wir Vier heute Abend essen werden: Im Wohnzimmer, Esszimmer oder an der Kücheninsel. Schließlich entscheide ich mich für das Esszimmer und decke dort den Tisch. Im Gästezimmer habe ich in einem Schrank Stoffservietten gefunden, die ich bügle und nach mehreren gescheiterten Faltversuchen einfach zusammengeklappt neben die Teller lege. Auf dem Tisch im Wohnzimmer verteile ich kristallene Weingläser auf Untersetzern und rücke ein paar Bilderrahmen und Deko-Objekte über dem Kamin zurecht. Zufrieden betrachte ich mein Werk.
Als ich mich daran mache die Lasagne vorzubereiten, frage ich mich, warum es mir überhaupt so wichtig ist, vor Carmen und ihrem Bill zu glänzen? Will ich sie irgendwie beeindrucken? Nein, stelle ich nach einiger Überlegung fest, es geht mir in Wahrheit nur darum, meiner besten Freundin zu zeigen, dass Chris und ich ein ganz normales Leben führen. Ich will ihr zeigen, dass, obwohl wir Mannwolf und Druidenhexe sind, man sich mit uns zu einem Pärchen-Dinner treffen kann.
Carmen hat mich noch nie hier besucht und ich befürchte insgeheim, dass sie vermutet, hier würden getrocknete Kräuter von der Decke baumeln, dubiose Tränke in bauchigen Flaschen die Regale füllen, Katzenschädel auf den Fensterbänken liegen und in der Luft würde immer der Geruch von Räucherstäbchen hängen. Quasi so, wie es bei meiner Tante Roberta oder Fletcher Zuhause aussieht.
Als mir Fletcher wieder in den Sinn kommt, ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche, während ich das Hackfleisch anbrate. Noch keine Nachricht von ihm. Ich schaue durch die Fensterfront hinunter zum See. Er sieht noch immer so grau und matt aus, wie seit heute früh, obwohl der Himmel frei von Wolken und strahlend blau ist. Ich seufze ratlos und werfe kleingeschnittene Tomaten und Paprika zu dem Hackfleisch, während in dem Topf daneben die Butter für die Bechamelsauce zu brutzeln beginnt.
Nachdem ich die Lasagne in der Auflaufform geschichtet und mit reichlich Käse bestreut habe, stelle ich sie in den blitzblanken Backofen. Ich habe sie extra jetzt schon vorbereitet, damit ich, wenn unsere Gäste da sind, nicht in der Küche herumwerkeln muss. Der Backofen muss nun nur noch angestellt werden, nachdem Carmen und Bill eingetroffen sind. Und während die Lasagne