Mann meiner Träume. Nicole Knoblauch
einmal bin ich froh, nicht mehr in Paris zu sein, es ist ... Du kannst dir nicht vorstellen, wie es dort zugeht. Ich habe erlebt, wie die Bevölkerung letztes Jahr am 10. August die Tuilerien stürmte. Der Mob geriet außer Kontrolle. Das Gemetzel ...“ Kopfschüttelnd hielt er inne und blickte mich liebevoll an. „Gut, dass du nicht da warst. Ich hätte nicht gewollt, dass du das siehst. Allein der Gedanke, du hättest dort in diese Menge geraten können ...“
Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, der mich beschützen wollte, dem mein Wohlergehen am Herzen lag.
„Ich habe gehört, was passiert ist und bin auch froh, dass ich nicht dort war. Was ist aus den Idealen der Revolution geworden?“
„An diesem Tag wurden sie mit Füßen getreten.“ Verachtung sprach aus jeder Silbe. „Leider bin ich sicher, dass es schlimmer kommen wird. Robespierres Ziele mögen richtig sein. Die Art, mit der er es angeht ...“ Er schüttelte den Kopf und drückte meine Hand. „Ich persönlich glaube nicht mehr daran, dass es möglich ist, Gleichheit für alle zu erreichen. Das ist idealistisches Geschwätz. Es wird immer eine herrschende und eine dienende Schicht geben. Man muss eben sehen, dass man auf der Seite der herrschenden steht – und der dienenden das Gefühl geben, dass es so das Beste ist.“ Er stand jetzt und verschränkte die Hände auf dem Rücken.
„Weißt du“, begann er von Neuem, „inzwischen bin ich noch mehr davon überzeugt, dass Rousseau mit seinen Theorien recht hatte: Da ist nichts Gutes im Menschen. Seine Triebfedern sind Furcht, Selbstsucht und Ehrgeiz. Ich bilde da keine Ausnahme. Aber ich habe erkannt, dass ich diesen Gedanken als Grundlage meines Handelns nehmen muss.“
Es fängt an, fuhr es mir durch den Kopf. Der Glaube an die Ideale ist verschwunden. Noch vor drei Jahren wollte er einfach Soldat sein. Jetzt änderte sich das. Jetzt wollte er handeln.
Und mit einer Wucht, wie sie nur eine unerwartete Erkenntnis liefert, verstand ich, was ihn antrieb. Es war nicht Machtgier oder Ehrgeiz – zumindest nicht am Anfang. Es war einzig und allein das Gefühl, es besser machen zu können. Man hatte es an seinen kurzen Sätzen über Robespierre und Toulon hören können: Er, Napoleone Buonaparte, würde es besser machen. Er vergaß dabei, dass selbst Robespierre nicht immer ein Vertreter des Terrors gewesen war. Seine Gedanken und Ziele zu Beginn der Revolution waren völlig andere. Der Mann, der jetzt Tausende unter der Guillotine sterben ließ, galt vor wenigen Jahren als einer der glühendsten Gegner der Todesstrafe. Macht und Verantwortung verändern einen Menschen und seine Ziele. Mein Blick fiel auf Napoleone. In diesem Moment wünschte ich mir nur eins: Die Geschichte sollte gnädiger mit diesem Mann umgehen und ihm dieses Schicksal ersparen. Wunschdenken.
Den Rest der Fahrt redeten wir über belanglose Dinge. Aber das Gespräch ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Nicht mehr lange und er würde all seine Ideale verlieren – und Macht bekommen. Ich versuchte, nicht an die Zukunft zu denken, was gar nicht leicht ist, wenn man sie genau kennt.
Als es langsam dunkel wurde, erreichten wir einen Hafen.
„Ich werde in Calvi an Land gehen“, sagte Napoleone. „Wir müssen Vorräte laden und ich habe einige Dinge zu erledigen. Berière kann sich um dich kümmern.“
Das würde nicht nötig sein. „Ich muss gehen, Napoleone.“ Durch meinen Tonfall versuchte ich zu sagen, dass ich bleiben wollte. Er streichelte meine Wange und flüsterte: „Es mach keinen Sinn zu fragen, wie du von der Insel wegkommst, oder?“
„Nein.“
„Ich dachte ...“ Er brach mitten im Satz ab, „Keine Vorwürfe. Ich habe es versprochen. Aber lass mich nie wieder so lange alleine.“
Ich antwortete nicht.
„Du sagst nichts? Möchtest nichts versprechen?“
Ich hörte den unterdrückten Zorn. Seine Augen verdunkelten sich und glitzerten gefährlich. „Ich kann nicht, Napoleone. Die einzige Möglichkeit dieses Versprechen nicht zu brechen ist, es nicht zu geben. In Gedanken bin ich bei dir“, meine Stimme brach.
„Werde ich jemals mehr als einen Tag mit dir bekommen? Mehr als ein paar flüchtige Stunden?“
Ich schloss die Augen. Das wäre wundervoll. Ein Leben an der Seite des Mannes, der mich liebte. Aber das war nicht möglich. Wenn ich auch nicht wusste, wie das mit den Träumen funktionierte, wusste ich doch sicher, dass daraus niemals mehr als diese Stunden werden würden.
Da ich ihm keine befriedigende Antwort geben konnte, sagte ich nichts und verließ fluchtartig das Schiff.
Anna ließ nachdenklich die Aufzeichnungen sinken. Sie bestätigten ihre Befürchtungen. Napoleone ähnelte Stefan mehr, als Marie zugeben wollte. Und sie steigerte sich da in etwas hinein, das nicht gut enden würde. Das einzig Positive an dieser Sache war, dass sie diese Beziehung nur im Traum führte.
„Und?“ Maries Stimme riss Anna aus ihren Gedanken.
„Merkst du eigentlich, dass dein Napoleone Stefan ähnelt?“
„Das stimmt nicht!“
„Nicht? Er schreit, macht dir Vorwürfe, bringt dich zum Weinen und ein Kuss von ihm lässt dich alles vergessen? Ich sehe da schon Parallelen.“
„Nein. Napoleone stellt keine Bedingungen. Er verlangt nichts von mir. Er lässt mich gehen, das hätte Stefan nie zugelassen. Bei Napoleone darf ich einfach ich sein.“
„Er verlangt nichts von dir?“ Anna konnte nicht glauben, dass Marie das wirklich dachte. „Du denkst nicht, dass da einiges verkehrt läuft?“
„Doch. Er verändert sich, verliert seine Ideale. Er ist jetzt härter.“
Mit geschlossenen Augen massierte sich Anna die Schläfen. „Wir reden immer noch über Träume, oder?“
„Sicher. Auch wenn es sich immer noch nicht so anfühlt.“
„Dann würde ich sagen, dass er zu dem Mann wird, den die Geschichte uns beschreibt: kalt, skrupellos und selbstverliebt. Daran wirst du nichts ändern können.“
Energisch schlug sich Marie mit der Faust aufs Knie. „Ich werde es aber versuchen. Meine Liebe muss doch etwas ändern!“
„Das hat schon bei Stefan nicht funktioniert.“
„Das hier ist anders. Ich bin anders! Diesmal werde ich es schaffen.“
Anna blickte zu Marie, die mit Tränen in den Augen vor ihr saß. „Du würdest wirklich bei ihm bleiben, wenn du könntest, oder?“
Marie nickte. „Das macht mich fertig, Anna. Ich werde nie bleiben können, nie da sein, wenn er abends nach Hause kommt, nie mit ihm die kleinen Dinge des Alltags erleben.“ Ihre Stimme versagte und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
„Ich weiß nicht, Marie. Wir reden über Napoléon I.. Vielleicht ist es besser, wenn du den Alltag mit ihm nie erlebst?“
„Soll das etwa gut sein?“
„Hast du mal überlegt, warum du diese Träume hast?“
„Woher soll ich das denn wissen?“ Ihre Worte klangen bitterer als beabsichtigt.
„Vielleicht soll dir das Ganze wieder Vertrauen in eine Beziehung geben?“
„Das ist aber ein merkwürdiger Weg, das zu erreichen. Ich soll lernen, eine Beziehung zu führen, indem ich keine führen darf?“
„Wenn du es so formulierst, hört es sich nicht überzeugend an“, sagte Anna seufzend. „Hast du inzwischen eine Ahnung, wer dieser Tristan Berière ist?“
„Keinen blassen Schimmer. Ich habe all meine Bücher durchgesehen