Johannas Gerechtigkeit (Rache einer Vergewaltigten). Martin Wischmann
das Mädchen, „ich will auch so werden wie Johanna von Or…“ „Johanna von Orleans“, wiederholte Rudolf den Namen, „aber wir leben heute in anderen Zeiten. Ohne Krieg und Gewalt, zumindest hier bei uns in Deutschland.“ „Meinst du wirklich, Papa“ , sagte Johanna nachdenklich ernst schauend, denn beim Wort Gewalt erschien ihr vor dem inneren Auge der Fettwanst, der die vergewaltigte. Rudolf nickte der Kleinen zu und reichte ihr die nach unten gerichtete Pistole. „Nimm sie in die rechte Hand und umschließe anschließend den Pistolengriff noch mit der Linken“, wies der Vater seine Tochter an. Dabei trat er hinter das Kind, bückte sich ein wenig und zielte mit geübtem Blick an Johannas Kopf vorbei, über die Pistole, bis hin zum Hufeisen an der Wand, „versuche das die obere Kerbe und der kleine Metallzipfel ganz vorne am Lauf, zusammen mit der Mitte des Hufeisens einen Punkt bilden. So zielt man nämlich. Die beiden Punkte da oben an der Pistole nennt man Kimme und Korn.“ Der Vater war beim Blick auf die Hände seiner Tochter erstaunt, wie bewegungslos und ruhig sie waren, denn die Pistole bewegte sich keinen Millimeter. Weiter fuhr er fort: „Ziele ganz genau und bewege den Zeigefinger am Abzug erst wenn du ganz sicher“, “Pch“, wurde der Satz von Rudolf durch den für ihn unerwartet frühen Schuss unterbrochen. „Guter Schuss“, staunte der Mann, „komm, wir sehen mal nach, wo die Kugel gelandet ist, ob sie innerhalb oder außerhalb des Hufeisens eingeschlagen ist.“ Als Rudolf, der seiner Tochter voraus lief, an der Wand ankam, sah er mit offenem Mund, staunend auf das Hufeisen und sagte: „Du hast Glück gehabt, der Schuss ging genau in die Mitte. Gut gemacht, …Glückwunsch Johanna.“ „Johanna von Orleans“, ergänzte das Mädchen, „aber ich hatte doch kein Glück, …ich habe doch gezielt.“ Rudolfs Gesichtsausdruck wirkte kurzzeitig etwas ratlos, denn er glaubte weiterhin an einen Glückstreffer, ließ aber dennoch seine Tochter noch weitere neun Male schießen, denn sie wollte unbedingt zehn Schüsse abgeben. Das Ergebnis verblüffte den langjährigen Freizeitschützen doch sichtlich, denn Johanna traf zweimal das Hufeisen und siebenmal das Zentrum in der Mitte. Lediglich ein Schuss, -und zwar der letzte traf außerhalb des Hufeisens auf die Wand, wohl weil infolge der ungewohnten Belastung der zierliche Kinderarm vom Gewicht der Waffe ermüdet war. Rudolf staunte nicht schlecht und Mutter Marianne hatte ein breites, stolzes Lächeln auf ihrem ohnehin runden Gesicht. Unbemerkt von Tochter und Mann hatte sie aus dem offenen Fenster des Schlafzimmers den ersten Schießversuchen Johannas zugeschaut.
Gerne hätte Rudolf seine Tochter direkt in den Schützenverein mitgenommen, doch dies war nach den Vereinsvorschriften erst ab dem vierzehnten Lebensjahr möglich. Abgesehen davon wollte Johanna gar nicht mehr mit in den Schützenverein. Das regelmäßige Üben hinter den Ställen mit ihrem Vater, gefiel ihr viel mehr. Im Alter von zehn, elf Jahren durfte sie sogar mit den schwereren Kleinkaliberwaffen üben, die verschlossen in Rudolfs Waffenschrank im Keller aufbewahrt wurden. Der Vater erklärte seiner Tochter, dass sie mit Niemandem über die Schießübungen mit den größeren Pistolen oder sogar dem Gewehr reden sollte, denn alle Waffen waren auf Rudolf angemeldet und durften ohnehin von Kindern nicht benutzt werden, schon gar nicht außerhalb einer offiziellen Schießanlage auf einem privaten Grundstück. Schweigen fiel Johanna nicht schwer, denn sie war nie von den Gedanken getrieben, mit anderen über das eigene Gefühlsleben zu sprechen. Zu sehr blockierte die Vergewaltigung, die sie mit
acht Jahren über sich ergehen lassen musste, ihr innerstes Wesen, ihre Einstellung zu anderen Menschen und die Offenheit Freundschaften zu knüpfen. Johannas Bruder Dietrich war in dieser Hinsicht ganz anders, denn er wurde fast täglich von Freunden besucht oder er fuhr selbst mit dem Fahrrad in die Nachbarschaft. Hin und wieder spielte Johanna ein wenig mit, doch meist nicht lange. Im Allgemeinen verschwand sie wortlos in ihrem Zimmer oder turnte und kletterte in der Scheune oder den leerstehenden Ställen herum. Im Klettern war sie ein echtes Naturtalent und nicht selten meinte ihre Mutter Marianne, dass ein Affe an ihr verloren gegangen sei. Und immer wieder las Johanna voller Begeisterung in dem Lexikon, in welchem sie erstmals von dem Attentat auf Martin Luther King erfuhr. Ein paar Jahre vor King wurde am 22.November 1963 ein amerikanischer Präsident namens John Fitzgerald Kennedy auf offener Straße erschossen, las das Mädchen unter der Jahreszahl 1963. Den Namen Kennedy fand Johanna mehrmals in dem Buch. Sie fragte bei ihrem Vater nach und erfuhr, dass der 1968 umgebrachte Robert Francis Kennedy ein Bruder des bereits fünf Jahre vorher ermordeten Präsidenten war. „Das ist ja interessant“, sagte Johanna überrascht zu ihrem Vater, „zwei Brüder und Beide kamen durch Attentate um. Was für ein Zufall. Waren die zwei Männer gute Menschen?“ „Das ist schwer zu sagen“, antwortete Rudolf mit tief ernstem Gesicht, „beide waren Politiker und Politiker haben Freunde und Feinde. Ein Politiker vertritt seine Meinung oder die Meinung seiner Partei und die finden die Einen gut und die Anderen schlecht. Manchmal streiten sich auch Leute, die der gleichen Partei angehören. Politiker zu sein ist sehr schwer, denn man kann es nicht allen recht machen. Die Wahrheit des Einen ist eine Lüge für den Anderen. Also ich beneide keinen Politiker, auch wenn sie sehr viel Geld mehr verdienen als ich. Viele sagen, sie bekommen zu viel Gehalt für, dass, was sie leisten. Schwer zu verstehen, Johanna, oder?“ Nickend antwortete das Mädchen: „Ja, sehr schwer. Aber ich glaube, dass die zwei Brüder bestimmt ein wenig komisch waren, sonst wären sie doch nicht beide Attentaten zum Opfer gefallen.“ „Mag sein“, stimmte der Vater neutral zu, „vielleicht, …vielleicht auch nicht.“
Es war der 13.Mai 1981, die mittlerweile dreizehnjährige Johanna saß auf der Eckbank in der Küche und blätterte in einem dicken Buch, welches von der Geschichte des Alpinismus handelte. Die vielen, meist schwarz-weißen Fotos darin begeisterten und beeindruckten das Mädchen sehr, denn die abgebildeten Berge schienen allesamt sehr hoch und steil zu sein. Neben den zahlreichen Abbildungen der Gipfel, Felswände und Gletscher waren außerdem jede Menge Gesichter zu sehen. Männer, die nicht älter als Vater Rudolf zu sein schienen. Es waren Bergsteiger, die in ihrer Zeit herausragende Leistungen vollbracht hatten. Da war ein Kletterer mit dem Namen Hans Dülfer und ein weiterer namens Hans Pescosta abgebildet, jeweils mit der Anmerkung im Text .“Gefallen im ersten Weltkrieg“. Johanna fragte ihre Mutter: „Mama, gefallen im ersten Weltkrieg. Was heißt das?“ Marianne, die gerade damit beschäftigt war, an ihrem Puzzle, dass einen Leuchtturm inmitten der Meeresbrandung zeigte, zu arbeiten, antwortete: „Gefallen im Krieg bedeutet Gestorben im Krieg. Entweder erschossen oder durch andere Einwirkungen wie Bomben oder so. Krieg ist immer schlimm. Kein schlauer Mensch will Krieg.“ Johanna kletterte in Gedanken mit, während sie sich eine Bergfotografie nach dem anderen ansah. Sich an senkrechten, teilweise sogar überhängenden Wänden empor zu bewegen, das wollte sie auch können. Ihr war aber trotz ihres jungen Alters durchaus bewusst, das Klettern in den Gebieten der Kalkalpen, Dolomiten, Westalpen und wie die anderen Regionen, welche in dem Buch beschrieben waren, auch hießen, sehr gefährlich war. Ein Blick auf das Foto eines sympathisch aussehenden jungen Mannes namens Paul Preuß erinnerte sie jedes Mal, wenn sie das Buch durchsah an die Risiken des
Extremen Kletterns. Preuß unternahm über zwölfhundert Bergtouren, von denen hundertfünfzig Erstbegehungen schwierigster Alpenwände waren, las Johanna voller Bewunderung. Doch am 03.Oktober 1913 stürzte er an einem Berg namens Mandlkogel im Dachsteingebirge tödlich ab, da er als Pionier des Freikletterns Hilfsmittel wie Seil und Haken ablehnte. Er wurde nur 27 Jahre alt. Johanna blätterte gerade im mittleren Teil des Buches, als ihre Mutter schnell vom Puzzletisch aufsprang und das Radio, welches auf angenehme Zimmerlautstärke eingestellt war, lauter stellte. “Attentat auf Papst Johannes Paul den Zweiten“, drang es aus dem kleinen Gerät, dass auf der Küchenarbeitsfläche links neben dem Kühlschrank stand. Das Mädchen wurde sofort hellhörig, denn bisher hatte es nur aus Büchern über Attentate erfahren, -und nun erlebte sie es hautnah am Radio mit. In den folgenden Tagen verspürte Johanna eine unaufhörliche Erregung, wenn im Radio, im Fernsehen oder in der Zeitung von dem Papstattentat berichtet wurde. Das katholische Kirchenoberhaupt hatte die zwei Pistolenschüsse in Bauch und Arm zwar überlebt, kämpfte aber trotzdem lange mit dem Tod. Es waren die Berichte des Attentates auf den Papst, 1981 auf dem Petersplatz in Rom, die Johannas Wesen und ihre Gedanken unwiederbringlich veränderten. Wenn sie mit Vater Rudolf, die zum festen Wochenprogramm gewordenen Schießübungen machte, sah sie seit dem Monat des Papstattentates nicht mehr das alte Hufeisen oder die von Rudolf gerne als Zielobjekt genutzte leere Blechdose, welche an einem stabilen Draht aufgehängt war, sondern Gesichter von Menschen, vor ihrem geistigen Auge. Sie schoss also in Gedanken auf ihren dicken Peiniger, aber auch auf Personen, die sie