Operation Ljutsch. Reinhard Otto Kranz
Was waren die wirklichen Ursachen und Hintergründe für diesen rasanten Rückzug, der wie ein Zerfall wirkte?
Bis heute wird kolportiert, dass der ehrenwerte Herr Gorbatschow auf Mahnung des ehrenwerten Herrn Sacharow den moralischen Offenbarungseid des Systems in die dilettantisch-pragmatische Politik der Auflösung eines Imperiums überleitete.
Ein bis an die Zähne bewaffneter Militär- und Sicherheitsapparat schaute dabei untätig zu, bis alles im Orcus der Geschichte verschwunden war.
Wie naiv!
Das zu glauben ist ähnlich unrealistisch wie anzunehmen, der einst ehrenwerte, jetzt ramponierte, Herr Obama oder seine Nachfolger könnten auf Anregung des ehrenwerten Dalai Lama alle siebenhundert Stützpunkte im Ausland räumen, die NATO auflösen und eine weltweite Friedensbewegung anführen. Vorbei an siebzehn Geheimdiensten und einem alles beherrschenden Militärisch-Industriellen Komplex.
Was war das - die Wende in Deutschland und Ost-Europa? Wie konnte das Geschehen und weshalb geschah es so schnell?
Dokumentationen, Untersuchungen und Protokolle zu den Ereignissen und vermeintlichen Hintergründen der Wende, beantworten viele nahe liegenden Fragen nicht. Sie wecken berechtigtes Misstrauen bei vielen.
Dieser Roman zu den Hintergründen der Wende ist inspiriert der großen Zahl historisch verbürgte Fakten und verknüpft sie mit autobiografischen Erlebnissen des Autors.
Aktionen und dokumentierte Aussagen lebender Personen im Zusammenhang mit den Ereignissen in Ost-Europa, die gemeinhin mit Wende beschrieben werden, sind Teil der Handlung.
Namen einiger handelnder Personen des Romans sind aus Gründen des Quellenschutzes verfremdet, ebenso wie die einiger beteiligter Organisationen.
Es ist eine Geschichte von Mut, Verantwortung und Moral – und immer dabei auch die Frage, wie viel der Einzelne noch selbst in der Hand hat, wenn er ins wilde Wasser der Ereignisse gerät.
Teil I: Das Vermächtnis
Menschen folgen nicht Menschen, sondern ihren mutigen Ideen!
1 Der Notar
Wieder schien eine Schachpartie eröffnet und Albrecht van Oie fragte sich, ob es für ihn ein ebenso gutes Ende nehmen würde wie damals, als die Mauer in Berlin fiel. Als dem erleichterten Aufatmen ob des friedlichen Durchbruchs, der einen befreienden Aufbruch verhieß – Tage wie Hammerschläge folgten und die Zeit einer anderen Auslegung anbrach, die noch Generationen umtreiben würde.
Eine neue Zeitrechnung, in der die anlaufende, Geld getriebene Zentrifuge der deutschen Vereinigung sogleich begann, die suchend Besonnenen, Nachdenklichen und Verunsicherten an den Rand zu schleudern.
Nachhallende Ereignisse, Personen, Fakten und Vermutungen zwischen Kreml-Flug und Mauerfall mischten sich seither zu einem Puzzle von Figuren und Schachzügen, das unentschlüsselbar schien, da kein plausibles Gesamtbild existierte.
Was war damals wirklich geschehen, wie konnte es so schnell geschehen, vor allem aber, was waren die Hintergründe und welche Akteure gab es noch?
Igor Iwanowitsch Antonow, der Chef der Operation Ljutsch, die zur Maueröffnung führte, war im Jahr 2004 in Moskau verstorben. Oie hatte es zufällig aus der Zeitung erfahren und damals in stillem Gedenken mit einem Wodka quittiert.
Er wusste nichts von Antonows letzten Lebensjahren, hatte keine Adresse, kannte keine Verwandten, – und hatte eigentlich schon begonnen, ihn zu vergessen.
Bei ihrer letzten Berliner Begegnung in den Neunzigerjahren hatte Antonow auf Oies Nachstochern zu den Geheimnissen um die Maueröffnung wie so oft mit spöttischer Miene geantwortet: »Oie, darüber darf ich dir immer noch nichts sagen, denn das Wesen der Geheimdienste ist, sie sind geheim. Die einzige Währung, mit der Dienste bezahlen und bezahlt werden, ist das Geheimnis.«
Gleich darauf kam jedoch ein schelmisches »Aber Außenstehende könnten es so sehen...« – und er erzählte ein paar erhellende persönliche Anekdoten, die zeigen sollten, dass er guten Willens war, aber nichts sagen durfte von dem, was er als Dirigent der Operation zur Maueröffnung unzweifelhaft wusste.
Doch nun, sechs Jahren nach dem Tod des Freundes, erhielt Oie eines Abends den Anruf eines Berliner Notariats. Er möge in einer Nachlass-Sache Igor Antonow vorbeikommen und einen Brief entgegennehmen.
Sie verabredeten einen Termin für den nächsten Tag um zehn Uhr, beim Notar Bulgakow auf der Kantstraße in Charlottenburg. In dieser Nacht schlief Oie, den sonst nichts aus der Ruhe bringen konnte, schlecht.
Rasselnde Militäraufmärsche wechselten mit rätselhaften, hektischen Verfolgungsszenen im dunkel verhangenen Berlin, in denen sein lang vermisster Bruder Otto wie ein Spuk auftauchte und lachend auf eine von Menschen umwuselte, hell erleuchtete Bresche in der Mauer verwies, bevor er sich mit einem letzten, ewigen Blick im Nebel auflöste.
Nass geschwitzt wachte Oie auf und wusste nicht, ob er es der Traumwelt oder der kochenden Stadt zurechnen sollte, der die weiten, aufgeheizten Ziegel-Gebirge seit Tagen jede Nachtfrische raubten.
Auf der morgendlichen Fahrt durch das schon flirrende Berlin fragte er sich, was nach nunmehr sechs Jahren wohl nachgelassen werde von Igor Antonow – und was ihn das noch anginge, ihn, einen Gestalter Anfang sechzig, im zwanzigsten Jahr nach der Deutschen Vereinigung?
Oie hatte es unter unausweichlichem Anpassungsdruck geschafft, die radikalen Veränderungen des Berufsumfeldes nach der Wende zu bestehen, die so viele seiner akademischen Künstlerkollegen aus der Bahn warfen. Das hektische Tempo der neuen Zeit, die geldgetriebene Atemlosigkeit und der Verlust an Maßstäben für das Beständige, Verwurzelte und Gültige in der Gestaltung hatten ihn herausgefordert – und er hatte es, so glaubte er, mit Haltung gepackt.
Unter dem Segel der Gesamtgestaltung, wie er es nannte, um sich von den modisch aufgesetzten Attitüden der Friseure im Design abzugrenzen, wurden neue, anspruchsvolle Kunden und Partner gewonnen, die seine gestalterische Sicht teilten, kulturelle Verwurzelung schätzten, und auch die besondere Eigentümlichkeit seiner Entwürfe für Gegenstand und Raum honorierten.
Oie fühlte sich bei seiner Arbeit – wie auch jetzt auf dem Weg zum Notar – immer als Entdecker, wie vor geheimnisvollen Toren, hinter denen die menschlich-kulturellen Überraschungen, die Freuden und Schönheiten des Gestaltens zu erwarten sind.
Auch gewachsene Eigenheiten und Verwerfungen, die es zu kultivieren galt, interessierten ihn. Das war das Spannende: die neue Sicht, die unverwechselbare, menschlich kompatible Problemlösung, der die kulturellen Erfahrungen des gestaltenden Praktikers Methode und Halt geben.
Dieses Spiel von Gegenstand und Raum, das seine Leidenschaft war – und dem schon Schiller mit der ewigen Wahrheit Ausdruck verlieh, dass der Mensch nur dann ganz Mensch sei, wenn er spielt – war für ihn ein nie versiegender Quell von Freude an Gestaltung. Vor allem hielt es jung, und er fühlte sich jung, obwohl er in den Maßstäben der medialen Jugendkultur ein alter Affe, ein Silberrücken war.
Zwar zwackten am Morgen die Knochen und sein Asthma oszillierte mit den Tages- und Jahreszeiten, aber er hatte beschlossen, nur noch soviel zu altern, wie es unabwendbar war. Dafür hatte er sein Trainingsprogramm, das er zweimal die Woche durchzog. Der Kopf war jedoch das Wichtigste. Sich jünger fühlen war für ihn vor allem eine Frage kreativ-intellektueller Beweglichkeit, mit der sich Picasso einst den Nachruf verdiente, – er sei bei seinem Tode der Jüngste der Franzosen gewesen.
Jünger aussehen, das musste Oie allerdings nicht - das war ihm zu mühsam. Vor allem die visuell lärmende Endalterung durch modischen Schnickschnack – und sein es Turnschuhe.
Die schlichte, schwarze Farbpalette des Designers war sein Lieblingsaufzug. Kurz geschorene Haare und ein silbriger Dreitagebart passten am besten zu seiner kleinen, kräftigen Figur und der hohen Stirn des starken Schädels.
Er