RAYAN - Die Serie (Teil 1 - 4). Indira Jackson
sah, konnte ich einfach nicht widerstehen. Als kleine Wiedergutmachung gebe ich Ihnen die Adresse meines Anwalts in der Stadt. Wenn Sie ihm diesen Brief zeigen, wird er Ihnen einige Fragen beantworten.
Wenn Allah es will, werden sich unsere Wege eines Tages wieder kreuzen. Möge er Sie stets auf all Ihren Wegen begleiten.
Rayan“
Weiter unten stand in Arabisch noch ein Satz, den sie nicht lesen konnte. Sie sprach ein paar Brocken, meist Höflichkeitsfloskeln, aber lesen konnte sie es nicht.
Vermutlich war der für den Anwalt gedacht.
Ein Anwalt! Ausgerechnet. Aber was hatte sie erwartet? Sie beschloss, für heute erst einmal zu schlafen und sich am nächsten Morgen Gedanken über ihre weiteren Schritte zu machen.
Nach dem anstrengenden, ereignisreichen Tag fiel sie rasch in einen tiefen Schlaf. Sie träumte vom Wüstenwind, Oasen und den faszinierendsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte …
1989 - Zarifa - Das Entkommen
Die Gruppe der jungen Leute hatte sich eng zusammengekauert, um Rayan herum. Er war so tapfer gewesen, und wofür? Es ging ihm schlecht. Sie hatten Wasser und eine Decke erhalten. Sachra flößte ihm in kleinsten Portionen Wasser ein. Sie war die einzige Frau der Gruppe, klein, zierlich und hatte ihre Haare so kurz wie die Männer geschnitten.
„Wenn er jetzt noch Wundbrand bekommt, übersteht er die Nacht nicht. Ich verstehe das nicht, sein eigener Vater … was für ein Monster.“ Tränen schimmerten in ihren braunen Augen. Ihr Freund Ibrahim entgegnete leise: „Vielleicht ist er ja besser dran so. Nicht mehr aufwachen, meine ich. Dann muss er das Schauspiel morgen nicht miterleben.“ Sachra starrte ihn wortlos an, was hätte sie auch sagen sollen?
Etwa eine Stunde vor Mitternacht wurde sie wach, weil Ibrahim sie am Arm schüttelte. „Ich habe einen offenen Riegel gefunden. Mensch, das könnte unsere Rettung sein.“ Sachra überlegte einen Moment lang: „Es könnte aber genauso eine Falle sein.“ Doch Ibrahim weckte schon die anderen: „Leise, wir müssen leise sein.“ Und zu Sachra gewandt sagte er: „Und? Was soll‘s? Morgen sind wir tot. Da nehme ich es eher jetzt noch mit der Falle auf, dann sterben wir wenigstens kämpfend.“
Sie dachten darüber nach, was sie mit Rayan machen sollten. Zurücklassen kam nicht in Frage. „Ich weiß, was wir tun können“, sagte Sachra, „nicht weit von hier wohnt seine Großmutter, da bringen wir ihn hin. Dort hat er die besten Überlebenschancen. Selbst wenn er dort gefunden wird, vielleicht kann seine Großmutter ihn vor dem Scheich, der ja immerhin ihr Schwiegersohn ist, beschützen.“ Ibrahim überlegte einige Sekunden, dann nickte er „Gute Idee“.
Leise schlichen die Freunde einer nach dem anderen aus dem Gatter hinaus. Es gelang ihnen, eine der Wachen geräuschlos auszuschalten.
Dann trennten sie sich: die drei anderen schlichen sich nach Norden, um sich in Richtung der Rebellensiedlung durchzuschlagen. Ibrahim, Sachra und ein weiterer aus der Gruppe trugen den noch immer Bewusstlosen in Richtung seiner Großmutter, wobei der größte Anteil des Gewichts bei den beiden Männern lag.
Zwei schwere Stunden später trafen sie bei Rayans Großmutter Eleonora ein. Sie klopften die alte Frau aus dem Bett, die in dem Haus zusammen mit ihrem Mann Youssef wohnte.
Eleonora war der Grund, warum Rayan trotz seiner arabischen Wurzeln blaue Augen hatte. Sie hatte diese an ihre Tochter Miriam vererbt, der Mutter Rayans. Eleonora stammte aus Deutschland und war wegen ihrer Liebe zu Youssef in Arabien geblieben, wo ihre einzige Tochter Miriam geboren wurde. Obwohl sie mindestens 60 war, war sie agil und flink, mit langem, schneeweißem Haar und jeder, der ihr Temperament kannte, hütete sich davor, sie zu reizen.
Nach einer kurzen Erklärung überließen sie der älteren Frau den schwer Verletzten und schlichen weiter, um sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Eleonora war entsetzt über die große Anzahl der blutigen Striemen auf Rayans Rücken. Als sie mit sanften Bewegungen begann, den Rücken zu säubern, liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Selbst wenn Rayan die Tortur überlegen sollte, wäre er sein Leben lang grausig entstellt.
2014 - Gefängnis von Dubai - Die Flucht
Colonel Abbouds Leute machten Feierabend.
Ein paar Stunden schmoren lassen würden dem Gefangenen nicht schaden. Sie würden ihn schon noch mürbe machen.
Morgen war auch noch ein Tag und nach der Ankündigung des Scheichs, trotz der Ereignisse am folgenden Tag gleich in der Frühe noch abzureisen, hatten sie ohnehin alle Zeit der Welt.
Also warfen sie ihn in eine dunkle Zelle, die eher einem stinkenden Loch glich. Das beeindruckte Ashraf jedoch wenig, denn sie hatte das Einzige, was er benötigte: ein Fenster nach draußen.
Ashraf zog sofort sein Hemd aus und hängte es aus dem Fenster. Er hatte zwar einige Mühe an die hohe Öffnung heranzukommen, aber halb kletternd, halb werfend gelang es ihm schließlich. Das war das Zeichen für Ali, wo er zu finden war.
Durch die rüden Verhörmethoden der Polizisten schmerze ihm sein ganzer Körper, doch das war vernachlässigbar und würde heilen. Wenn er allerdings nicht bald hier rauskäme, war seine Gesundheit keinen Pfifferling mehr wert.
Er hoffte bloß, dass Vetter Ali sich an die Absprache halten würde, nachdem er sicherlich gehört hatte, dass das Attentat schief gegangen war. Ali hatte seine Ohren überall.
Kurz vor dem Morgengrauen, als er sich bereits ernsthafte Sorgen machte, hörte er den vereinbarten Pfiff. Er bestätigte. Daraufhin hörte er anstelle des erwarteten Knalls einer Explosion einen Schlüsselbund klingeln. Mit einem breiten Grinsen stand Ali vor ihm. „Na Vetter? Hast schon an dem alten Ali gezweifelt, was?“
„Verdammt was tust du Ali? Bist du noch zu retten?“
Beleidigt machte sich Ali ans Aufschließen der Zelle: „Du könntest ruhig etwas dankbarer sein!“
Doch Ashraf erwartete jeden Moment die Männer des Colonels zu sehen: „Die lassen uns doch nie so einfach hier rausspazieren! Und dann haben sie dich auch noch geschnappt und wir sitzen beide hier! Und wie kommen wir dann raus?“
„Stell dich nicht so an, die Wachen schlafen alle tief und fest. Dies ist hier schließlich eine ganz gewöhnliche Polizeistation und nichts anderes.“ Wo Ali recht hatte, hatte er recht. Die gewöhnlichen Polizisten waren bekannt dafür, dass sie es nicht so genau nahmen.
„Aber was ist mit den Männern des Colonels?“, fragte Ashraf. Die würden sich sicher nicht so leicht übertölpeln lassen.
„Einer vor der Tür draußen hat ins Gras gebissen, den Zweiten hier drinnen hab‘ ich niedergeschlagen. Meinst du denn, ich will in den Knast? Los weg hier, bevor der aufwacht“, erklärte Ali mit stolzgeschwellter Brust.
Ashraf konnte sein Glück kaum fassen. Breit grinsend umarmte er seinen Vetter. „Ali, ich habe dich unterschätzt!“
Fast zu leicht kamen die beiden bis zum Ausgang. Dort standen zwei weitere Männer des Colonels, die sich aber so sicher fühlten, dass sie tief in Konversation versunken zwar ein halbes Auge auf die Außenseite der Polizeistation hatten, jedoch der Innenseite keinerlei Beachtung schenkten. Wieso sollte ihnen von innen Gefahr drohen?
„Und wie kommen wir an denen vorbei?“, flüsterte Ashraf fast unhörbar.
Auch daran hat Ali gedacht! Und führte Ashraf in den Hinterhof des Gefängnisses.
In der Dunkelheit erkannte Ashraf ein Seil, das von der Mauer hing. Mithilfe einiger Müllkisten, die in dem dreckigen Hinterhof herumlagen, war es für den sportlichen Ashraf ein Leichtes, die Mauer zu erklimmen. Ali hatte größere Schwierigkeiten, schaffte es letztlich aber auch und Ashraf zog ihn neben sich auf die Mauer.
Ein letzter Blick zurück auf das Gefängnis und schon war er unten. Erleichtert atmete er auf. Gerade wollte er Ali nochmals