#4 MondZauber: VERGELTUNG. Mari März
Trotz verstärkter Sicherheitsvorkehrungen kam es in der Nacht zum 31. Dezember zu einem weiteren Einbruch. Ein Augenzeuge will bemerkt haben, wie eine dunkle Gestalt die massive Stahltür des Bluttresors mit bloßen Händen aus den Angeln gerissen haben soll. Diese und weitere Aussagen von Mitarbeitern des Northern Ireland Blood Transfusion Service geben den zuständigen Polizeibeamten Rätsel auf.«
»Ich muss nicht Einstein sein, um zu kapieren, wer die Blutbank ausgeraubt hat. Schöne Scheiße!«, konstatierte Lyra, die jetzt ihr Handy einschaltete. »Wenigstens hat der alte Cathán so viel Anstand und saugt keine Menschen aus wie dieser Blödmann in Spitzbergen. Aber ein Gutes hat das vielleicht …«
Lyra betrachtete das Display, da waren diverse Anrufe in Abwesenheit von ihrer Mutter und Ian, zahlreiche E-Mails, jede Menge Spam und eine Messenger-Nachricht bei Facebook. Nanu? Sie hatte den Account vor Jahren angelegt und fast genauso lange nicht mehr dort nachgesehen. Facebook war tot. So tot wie die armen Seelen in diesem Massengrab am Isfjord.
»Was meinst du?« Miranda wischte immer noch auf ihrem Handy herum. Offenbar suchte sie weitere Schauernachrichten, die sich mit jener deckten, die sie gerade vorgelesen hatte.
»Also …« Lyra räusperte sich, ihr Gedanke hatte sich gerade noch schlüssig angefühlt, aber nun. »Ich kenne das nur aus Twilight, aber vielleicht ist es in der realen irren Welt ähnlich.« Sie machte eine Pause. Irgendwie klang das verdammt schräg.
»Rück schon raus, Kätzchen!«, machte Miranda ihr Mut und schaute von ihrem Handy auf.
»Also wenn die magische Welt in Gefahr ist, und das ist sie gerade, wenn also …« Sie rieb sich die Stirn. Es fiel Lyra immer noch schwer, sich zu konzentrieren. Der hohe Blutverlust und vier Tage Koma hätten bei normalen Menschen wahrscheinlich einen bleibenden Hirnschaden verursacht. Na ja, zum Glück war sie kein Mensch und nicht normal. Dennoch waren die Folgen des Traumas spürbar. Die Kopfschmerzen ließen langsam nach, die Lebensgeister kehrten zurück, nur in ihrem Hirn war immer noch ein großer Haufen Watte.
»Geht es dir schlechter?«, fragte Dagur besorgt.
Lyra seufzte und schaute zu den Zwillingen. »Nee, alles gut. Das wird schon. Also, was ich meine …« Sie setzte sich aufrecht hin und zwang sich, den Gedanken festzuhalten und klar zu formulieren. »Miranda, du sagtest, dass dieses hohe magische Gericht nicht direkt einschreiten darf, weil die Götter im Spiel sind. Richtig?«
Ihre Tante nickte und schenkte Lyra jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. »Richtig. Der Exempli Gratia Magicis darf sich nur einmischen, wenn …« Jetzt schien bei Miranda der Groschen gefallen zu sein. »Na klar, Kätzchen! Du hast vollkommen recht. Die Mitglieder des Hohen Rates dürfen nur einschreiten, wenn jemand aus der magischen Welt Mist gebaut hat. Nun, das ist jetzt wohl mehr oder weniger amtlich. Götter hin oder her, es ist ihre Pflicht, jetzt einzuschreiten.« Wieder wischte Miranda hektisch über das Display ihres Smartphones. »Ich werde die Artikel gleich mal deiner Großmutter schicken. Mal sehen, was sie sagt.«
»Was sie sagt?« Lyra wusste zwar seit einigen Tagen, dass ihre Großeltern mütterlicherseits, also die Eltern von Miranda und Miriam, noch lebten. Sie hatte es auf dem Weg zu den Marble Arch Caves erfahren, nur keine Zeit gehabt, länger darüber nachzudenken oder ihre Tante eingehend auszuquetschen. Jetzt aber …
»Kann ich mit ihr sprechen, mit meiner Großmutter?«
Miranda schaute sie eine Weile nachdenklich an, schürzte dann die Lippen und tippte weiter. »Ich habe deinen Großeltern bereits mitgeteilt, dass du wieder unter den Lebenden weilst und offenbar kein Vampir bist.«
»Das beantwortet nicht meine Frage. Gib mir bitte ihre Nummer oder E-Mail-Adresse!«, forderte Lyra mit einem pampigen Ton in der Stimme. Die alte Wut war wieder da. Warum konnte ihre Familie nicht so sein wie andere? Was war jetzt schon wieder verkehrt?
»Ich werde sie darüber informieren, dass du mit ihnen sprechen willst.«
Lyra sprang auf, wurde aber an ihrem Wutausbruch gehindert, als ein heftiger Knall die angespannte Stille zerriss. Vor dem Bullauge war ein Leuchten zu sehen. Instinktiv duckte sich Lyra. Ein weiterer Knall dröhnte über ihnen, ein weiteres Leuchten. Sie schaute zu den anderen, Arnar grinste, Dagur ebenfalls.
»Kätzchen, du wirst deine Großeltern kennenlernen. Versprochen! Aber nicht jetzt. Jetzt wollen wir Silvester feiern, so gut es hier auf dieser verrosteten Brotbüchse möglich ist.« Miranda legte ihr Handy in die Tasche ihrer Jeans und zog Lyra in die Arme. »Alles zu seiner Zeit. Ich weiß, dass Geduld nicht gerade dein zweiter Vorname ist, aber deine Großeltern sind … na ja …«
»Was?«, brüllte Lyra über den nächsten Silvesterkracher hinweg, der gerade an Deck gezündet worden war. Ihr neues magisches Feature machte es möglich, dass sie das Frachtschiff auf dem Ozean von außen betrachten konnte. »Sie sind also doch tot oder Geister oder was?«
»Irgendwie schon«, erwiderte Miranda und beugte sich zum Bullauge, vor dem weitere Raketen explodierten und den nachtschwarzen Himmel in ein surreales Licht tauchten. »Die Mitglieder des Exempli Gratia Magicis müssen der irdischen Lebensweise entsagen, bevor sie dieses höchste Amt antreten. Sie müssen loyal gegenüber allen magischen Wesen sein, weshalb es ihnen untersagt ist, in Kontakt zu ihrer Familie oder Freunden zu treten«, flüsterte Miranda dicht an Lyras Ohr. »Dass ich sie in all den Jahren auf dem Laufenden gehalten habe, verstößt im Grunde schon gegen die strengen Auflagen des Rates. Aber wir werden einen Weg finden. Vertrau mir!«
Lyra wischte sich energisch über das immer noch blasse Gesicht. Wie sehr sie es hasste, wenn die Wahrheit ätzend war und darüber hinaus nur bruchstückhaft an sie weitergegeben wurde. Aber angesichts dieser Tatsache, dass ihre Großeltern quasi gezwungen waren, im kontaktlosen Nirwana zu leben, musste sie sich wohl mit jener E-Mail zufriedengeben und ihrer Tante vertrauen, die für sie das geltende Recht bereits übertrat. Andererseits war das mit dem Vertrauen so eine Sache. Jahrelang wurde sie von ihrer Mutter belogen, auch wenn Lyra damit allmählich ihren Frieden machte. Aber wie sollte sie Miranda vertrauen, die siebzehn Jahre lang lediglich ihre Hauskatze Merci gewesen war und offiziell als tot gegolten hatte?
»Das ist doch alles Scheiße!«, murmelte sie resigniert. »Silvester ebenfalls. Ich hasse Silvester und all die aufgesetzte Fröhlichkeit. Wir haben keinen verdammten Grund zu feiern!«
»Doch, Kätzchen, den haben wir«, entgegnete Miranda und drückte sie fest an sich. »Du bist am Leben, wir sind am Leben. Also lass uns an Deck gehen, bevor die Jungs da draußen alle Böller verschossen haben.«
Mürrisch ließ sich Lyra von ihrer Tante aus der Kabine ziehen. Die Rabenbrüder folgten ihnen, verschwanden dann aber in der Nachbarkabine.
»Hey, ihr müsst mitkommen! Einer für alle, alle für einen!«, rief Lyra den Zwillingen hinterher, die mit mehreren Sektflaschen bewaffnet zurück auf den Gang traten. »Klar kommen wir mit, aber kein Silvester ohne Sprudelwasser.« Mit jeweils einer Flasche in jeder Hand schritten Arnar und Dagur voran und stimmten ein Lied an, das Lyra vage bekannt vorkam.
»Soon may the Wellerman come, to bring us sugar and tea and rum. One day, when the tonguin’ is done. We’ll take our leave and go …«, sangen die Rabenbrüder aus voller Kehle und stampften den Takt mit ihren kleinen Füßen, als sie die Treppen zum Deck hinaufpolterten.
»Das ist ein Seemannslied, der Wellerman-Song. Hundertsechzig Jahre alt, aber irgendwie nicht totzukriegen«, kommentierte Miranda und half Lyra, deren Knie sich immer noch wie Pudding anfühlten.
Die frische Luft tat gut, die Stimmung an Deck verscheuchte Lyras trübsinnige Gedanken und auch ihre körperliche Schwäche trat in den Hintergrund, als die Männer der Besatzung in den Shanty-Song einstimmten. Miranda hielt Lyra ihr Handy hin, wo sie den Text fand. Die Männer stampften den Takt, der so ansteckend war, dass sie nicht anders konnte, als mitzusingen.
There once was a ship that put to sea
The name of that ship was the Billy o’ Tea
The winds blew up, her bow dipped down
Blow,