Neue Zeiten - 1990 etc.. Stefan Koenig
den Apparat. „Ich organisiere alles zu deinem Besten und dann das! Was denkst du, wie erschöpft ich bin!“
„Es liegt nicht an mir“, begann Carry, „der Flieger hatte Probleme.“
„Wälze die Schuld bitte nicht auf irgendeinen Flieger ab. Es gibt Anschlussflüge, es gibt Ersatzflieger. Du hättest einen Privatjet nehmen können. Wenn du hättest hier sein wollen, wärst du jetzt hier.“
„Können die Produzenten das Meeting nicht auf heute Abend oder morgen verschieben?“
„Selbstverständlich nicht. Marc Shmuger hat seine Zeit nicht zu verschenken. Er hat als bekannter Filmproduzent genug Schauspieler zur Auswahl. Mit seiner Connection zu Universal Pictures und der Europa Corporation braucht er nur mit den Fingern schnippen. Was, glaubst du wohl, sind das für Leute? Sie sind nur deswegen nach Frankfurt geflogen. Und ihre Flieger saßen nicht mit dem Arsch auf der Rollbahn fest.“ Mason redete sich erneut in Rage.
„Dann bleibe ich jetzt eine Woche hier. Wenn es zu spät ist für das Meeting, dann lassen wir es eben. Ich steige eine Weile aus.“
„Hey, das ist nicht der Zeitpunkt, um Scherze zu machen. Ich habe alles arrangiert …“
„Und ich habe alles versucht, nach Frankfurt zu kommen, aber die Fluggesellschaft hat mich im Stich gelassen. Bis bald, Mason, wir hören uns in einer Woche.“
„Das ist doch nicht dein Ernst! Wo willst du hin? Du kannst dich doch nicht einfach so verdünnisieren!“
„Ich bin ein erwachsener Mann. Wenn meine Fans mitbekämen, wie du mich gängeln willst, wäre meine und damit deine Karriere im Eimer. Ich kann eine Woche hier Urlaub machen oder einem Monat, wenn ich will. Wir sehen uns in Los Angeles.“ Carry schaltete sein Mobiltelefon aus. Dann ging er los und genehmigte sich noch einen Irish Coffee. Diese Art von Freiheit war neu für ihn. Er war dem wenig geliebten Treffen entkommen. Er konnte endlich einmal tun und lassen, was er wollte, ohne einen bevormundenden Manager konsultieren zu müssen. Er war tatsächlich frei.
Die Airline hatte ihm einen großen Gefallen erwiesen.
Aber wo sollte er hin? Vielleicht sollte er einen Reiseführer kaufen oder ein Reisebüro aufsuchen. Auf den Tischen ringsum lagen Prospekte mit Vorschlägen, was man in der Region alles machen konnte. In einem Schloss wurde ein mittelalterliches Bankett veranstaltet. So etwas fand er völlig verquer. Es wurde eine Tour angeboten zu einer spektakulären Klippe namens Moher, angeblich eines der Weltwunder. Man konnte Golfreisen buchen. Aber nichts davon sprach Carry an.
Eine der Broschüren jedoch warb mit einer „Woche im irischen März“ und lockte mit einem warmen, behaglichen Haus, meilenweiten Sandstränden, Klippen und wilden Vögeln. Carry wählte die Nummer, um sich zu erkundigen, ob noch ein Zimmer frei wäre. Eine warme Frauenstimme bestätigte ihm, dass sie tatsächlich noch ein Zimmer für ihn habe, und empfahl ihm, ein Mietauto zu nehmen und in Richtung Norden zu fahren. Sobald er in Honeybridge sei, solle er sich noch einmal melden, und sie würde ihn zum Haus lotsen.
„Womit muss ich rechnen?“, fragte Carry und vermied seinen Namen zu nennen. Vielleicht könnte er sogar inkognito buchen, was ihm am liebsten wäre.
„Mit freundlichen Menschen in einem freundlichen Haus“, hörte er die warmherzige Stimme lachend sagen.
„Ich meine die Bezahlung.“
„Bar oder mit Scheck, aber das können wir alles klären, wenn Sie hier angekommen sind. Mein Name ist Ferry. Und wie heißen Sie?“
„John“, antwortet Carry, ohne zu zögern.
„Gut, John, lassen Sie sich Zeit und geben Sie acht auf die irischen Autofahrer. Sie sind berüchtigt dafür, dass sie ohne Vorwarnung plötzlich ausscheren. Rechnen Sie immer mit dem Schlimmsten, dann kann nichts passieren.“
Die Anspannung in seinem Nacken ließ nach und er ließ die Schultern kreisen. Jetzt endlich war er ein ganz normaler Tourist, der einen dieser ganz normalen Urlaube machte. Keine Presseempfänge, keine lästigen Interviews, keine Fototermine, kein aufgesetztes Lächeln, kein Tross von Drehbuchschreibern, keine Skripte, die er auswendig lernen musste, kein Regisseur und keine neidischen Schauspielkollegen. Nur seine Gitarre begleitete ihn.
Es war ein kalter, klarer Märztag. Stephen Carry legte seinen kleinen Reisekoffer und das Musikinstrument auf den Rücksitz des Mietwagens und fuhr in Richtung Norden.
Er durfte nicht vergessen, dass er von nun an wieder John hieß.
Schnäppchenjäger & Einflüsterer
Am Abend des vierten Messetages, es ist der 14. März, ist der Bundeskanzler in Leipzig. Es ist sein sechster und letzter Auftritt in diesem Wahlkampftheater. Die westdeutschen Demoskopen prognostizieren noch immer eine Wahlniederlage des konservativen Wahlbündnisses namens »Allianz für Deutschland«. Allerdings wittert die internationale Presse bereits einen massiven Stimmungsumschwung zugunsten dieser konservativen Allianz, was man vor allem auf die bisherigen Auftritte Kohls zurückführt.
Genau dort, auf dem Karl-Marx-Platz, wo erst zwei Tage zuvor die letzte Montagsdemo stattgefunden hat, spricht Kohl. Er will demonstrieren, dass dieser Platz der seine ist. Sein politischer Freund, der erzkonservative Heinrich Lummer aus Westberlin, ein eingefleischter Kalter Krieger, spricht kreidesanft über die Einheit Deutschlands. Die rechtsradikalen Republikaner verteilen Flugblätter, Skinheads verbrennen Wahlbroschüren der SPD und des Neuen Forums, die Mitteldeutschen Nationaldemokraten bestehen größtenteils aus Westdeutschen NPDlern und skandieren »Deutschland den Deutschen!«
Deutschland den Deutschen! Na klar! Wem auch sonst? Ich erkenne im Fernsehen nur deutsche Politiker, die sich in Leipzig tummeln. Politiker, die Deutschland hüben wie drüben seit Jahrzehnten regieren. Aber dann stolpere ich über meine eigenen Gedanken. Waren diese Deutschen nicht teilweise sehr abhängig von ausländischen Freunden, Ratgebern, Finanziers, Bündnispartnern? Haben die Deutschen sich in der Vergangenheit unabhängig und souverän verhalten? Oder verhalten können?
Da musste ich über die völlig anders gemeinte Parole der Neonazis schmunzeln: »Ausländer raus!« Denn eines meinten diese rückwärtsgewandten Nationalisten ganz sicher nicht: Raus mit der NATO, raus mit dem Warschauer Pakt!
Doch genau das ist derzeit in der breiten Masse der West- wie Ostdeutschen eine heiß diskutierte Alternative zum bisherigen Kalten Krieg. Bürgerrechtler, die dafür und für eine behutsame Annäherung an Westdeutschland oder für die Eigenständigkeit der DDR als demokratischer Staat plädieren, werden neuerdings ausgepfiffen. 20.000 Schaulustige waren am Montag zur traditionellen Demo gekommen. Heute, zwei Tage später, wollen fast 250.000 Menschen Helmut Kohl hören. Da es keine Zoll- oder Gewerbekontrollen mehr zu geben scheint, sind westdeutsche Bier- und Bratwurststände überall in der Stadt. Leipzigs Straßen sind am Abend völlig zugemüllt. Ein westdeutsches Bier kostet fünf Mark Ost. Ein gutes DDR-Bier kostet immer noch 80 DDR-Pfennige. Dennoch ist der Westbier-Umsatz gigantisch.
Als Kohl für seine Rede zum Balkon der Oper emporsteigt, sieht man ihm den Ärger aus den letzten Tagen an. Er hat die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Linie, die Grenze zu Polen, bei einem Auftritt mit dem US-Präsidenten George H.W. Bush in Frage gestellt. In Ost wie West ist man immer noch gleichermaßen entsetzt. Kohl gefährdet mit dieser revanchistischen Position den Erfolg seiner wahlpolitischen Aufholjagd. Er versucht zu besänftigen – ein zukünftiger gesamtdeutscher Souverän möge darüber entscheiden.
Ebenso verhängnisvoll trifft Kohl der Fall Schnur. Der Spitzenkandidat der konservativen Allianz, Wolfgang Schnur, ist am Tag vor Kohls Rede als Spitzel der Stasi entlarvt worden. Er hatte bereits Modrows Runden Tisch wegen Korruptionsvorwürfen verlassen müssen, wurde aber dennoch von der West- wie Ost-CDU als möglicher DDR-Ministerpräsident gehandelt. Jetzt ist Schnur hinfällig. Kohl spielt diesen politischen Super-GAU vor seinem Leipziger Auftritt auf einer Pressekonferenz herunter. Er hat die Gabe, diesen Skandal in einer Art Zauberzylinder einfach verschwinden zu lassen.
Die Menschen vor der Oper scheinen nicht sonderlich daran interessiert,