L(i)eber Bruder. Katharina Georgi-Hellriegel
Stufe wartet und wer schon in die zweite Stufe aufgerückt ist!“
Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass manche den Ironieversuch begriffen hatten, während andere nach wie vor dumpf und ungerührt vor sich hin starrten. Um möglichst auch sie für die im Entstehen begriffene Partei der Systemkritiker zu gewinnen, überlegte ich gerade, wie ich noch mehr aufhetzendes Gedankengut formulieren könnte, da kam mir der Zufall zu Hilfe.
Eine weitere Tür, die in den Warteraum mündete, wurde von einer jungen Ärztin mit den klassischen Worten „Der Nächste, bitte!“ geöffnet, während die Anmeldungsglastür nach wie vor geschlossen blieb. Ich wartete nicht ab, bis der von der Ärztin aufgerufene Patient die freundlich aufgehaltene Tür erreicht hatte, sondern meldete mich erneut zu Wort: „Kann es sein, dass hier die Anmeldung länger dauert als die Behandlung?“ fragte ich in den Raum hinein und erntete dafür die ersten Lacher, während die Ärztin leicht verunsichert mit ihrem Patienten verschwand.
Die Stimmung wurde nun spürbar lockerer, und als ein weiterer Neuankömmling erschien und zielstrebig auf die Anmeldungsglastür zusteuerte, da redeten schon, anders als bei meiner Ankunft, alle durcheinander: „Nicht reingehen! – Sie müssen hier warten, bevor Sie sich anmelden! – Halt, da kommen noch einige andere vor Ihnen dran!“ Es gelang nach einiger Zeit, den komplizierten Sachverhalt klar zu machen, und der Neue setzte sich erst einmal hin, nicht ganz zufrieden zwar, aber er haderte zumindest nicht laut mit seinem Schicksal.
Anders verhielt es sich wenig später bei einem jungen Farbigen, der zwar ebenso vielstimmig angesprochen wurde, aber – des Deutschen offenbar nicht ausreichend mächtig – lediglich verwirrt um sich blickte, dabei aber weiter die verbotene Tür ansteuerte. Erwartungsgemäß empfing ihn ein lauter Schwall maßregelnder Worte, so dass er die Klinke erschrocken fahren ließ, ganz so, als wäre sie elektrisch geladen. Er taumelte geradezu in den Warteraum zurück, während die sich selbst schließende Tür den unfreundlichen Wortschwall dämpfte. Als er sich ratlos hingesetzt hatte, versuchten ein paar Hilfsbereite, ihm die komplexe Struktur von primären und sekundären Wartezuständen und deren Konsequenzen zu erläutern, was aber trotz des guten Willens scheitern musste, und zwar nicht nur wegen mangelnder Sprachkenntnisse: Dem Afrikaner fehlten ganz einfach einige Jahrzehnte solider deutscher Bürokratie-Erfahrung, um sein Erlebnis auch nur ansatzweise richtig einordnen zu können.
Immerhin: Der weitere Prozess lief nun wie vorgesehen ab, nach angemessener Zeit durfte ich mich tatsächlich anmelden und drang nach weiterem Warten schließlich sogar zu einer Ärztin vor, die mich rasch und mit günstigem Ergebnis untersuchte. Als ich gleich darauf den Warteraum wieder betrat, war offenbar auch der junge Afrikaner einen bedeutenden Schritt weiter gekommen. Er war gerade im Begriff, den Anmeldebereich zu verlassen, schien aber mit dem Erreichten nicht ganz zufrieden zu sein. Das wiederum hing vielleicht mit dem Hinweis zusammen, den ihm die vorhin so Ungnädige freundlich mit auf den Weg gab: „Sie müssen jetzt erst mal zur Ambulanz-Aufnahme in den sechsten Stock, und wenn Sie dort fertig sind, dann kommen Sie wieder hierher!“
Der Mann guckte jetzt fast ein wenig wütend, aber ich fand, das musste nicht sein: Immerhin hatte er doch jetzt ein neues Ziel, und außerdem würde er, wenn schon nicht jetzt, dann vielleicht später, dafür dankbar sein, dass er hier einen fast einmaligen Höhepunkt deutscher Wartekultur miterleben durfte, gekennzeichnet durch alle drei Grundelemente, wie sie seit alters her in der im Grundgesetz verankerten Warte-Charta niedergelegt sind:
Langwierigkeit des Wartens, die eindeutige Vergeblichkeit desselben, und nicht zuletzt die Tatsache, dass der ganze Vorgang jeder vernünftigen Erklärung unzugänglich sein und bleiben muss.
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