Man sieht sich zweimal im Leben. Georg Christian Braun
Karin Degelmann wusste nicht, wie ihr geschah. Das lag an dem befremdlichen Verhalten ihres Kollegen, der kopflos auf seinem Stuhl saß oder verstreut auf den Fluren des Polizeipräsidiums umherirrte. Fragen wollte sie ihn nicht, er hatte die Angewohnheit, sich nicht den Dingen zu stellen, welche ihm unangenehm aufstießen. Sorgen machte sich die Oberkommissarin allemal, zumal Waldschütz selten bis nie Urlaub nahm und die Überstunden verfallen ließ. Jochen Waldschütz lebte für seinen Beruf und ordnete das Privatleben dem Dienst unter – so, wie es Präsident May gerne sah.
Sie ertappte sich dabei, wie sie bisher unbekannte Aspekte an ihrem Kollegen wahrnahm. Sie wurde sich bewusst, dass sie über ihn so gut wie nichts wusste. Umgekehrt auch. Obwohl sie täglich bis zu vierzehn Stunden miteinander verbracht hatten, fanden sie nie die Gelegenheit, sich privat kennenzulernen. Irgendwie schade, meinte Degelmann.
Waldschütz plagten andere Sorgen. Die Vergangenheit in Gestalt von Artur Kowalski holte ihn erbarmungslos ein, ein Typ, der auf dem Holz von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ geschnitzt war, also von Verzeihen nicht viel hielt. Sein Koordinatensystem kannte nur archaische Werte, die in die moderne Welt nicht passen wollten, was den Straftäter nicht weiter störte. Die lange Zeit im Gefängnis hatte er abgebüßt, nun mussten andere büßen für das, was sie ihm angetan hatten. Er dachte dabei ganz bestimmt an den Polizisten, der ihm die Gefangenschaft eingebrockt hatte. Und genau jener befand sich auf dem Weg nach Bielefeld. Seine Art der Vergangenheitsbewältigung, dem Menschen, der ihm die Seelenpein verursachte, auf den Spuren zu sein, die Vergewisserung, ob dieser noch denselben Hass in sich trug, den er bei seiner Verurteilung ausgespien hatte. Waldschütz war mulmig zumute. Was würden die Beamten über ihren Schützling aussagen? Hat er sich menschlich betrachtet verändert und wenn ja, in welche Richtung?
Fünfzehn Jahre im Knast gehen an niemandem spurlos vorüber, dessen war sich Waldschütz bewusst. Kein Mensch, auch diejenigen nicht, welche zeitweilig die menschlichen Merkmale vergruben, opfert die Freiheit und lässt sich von anderen Mitgefangenen quälen, ohne unbeeindruckt seine Schlüsse daraus zu ziehen. Und erst dann nicht, wenn das Gefühl, zu Unrecht verurteilt worden zu sein, die Gedankenwelt in Gang hielt. Was würde im Gehirn eines Menschen vor sich gehen, der so viele Tage mit einer Wut im Bauch in der Knastzelle verbringt und auf vieles verzichten musste, was das Menschsein lebenswert erscheinen ließ?
Eine direkte Konfrontation mit Kowalski wollte Waldschütz um alles in der Welt vermeiden. Für den Knacki war der Bulle das knallrote Tuch eines Toreros, der den Stier bis aufs Blut reizte und diesen unweigerlich nach einer langen Qual in den Tod beförderte. Waldschütz hatte das Gefühl, er hätte Kowalski in den seelischen oder sozialen Tod geritten. Dieser würde mit den letzten Zuckungen und Regungen, die der Leib erlaubte, dem Bullen den Garaus machen wollen.
Waldschütz hatte das Frankfurter Kreuz passiert, er befuhr die A5 bis Kassel, wo er dann nach Dortmund und weiter in Richtung Bielefeld fahren wollte. Die zitternden und schwitzenden Hände verrieten ihm den emotionalen Pegel. Er spielte einen gefährlichen Gedanken aus, der im möglicherweise am Ende des Weges in größte Schwierigkeiten führte.
„Das ist es mir wert“, machte er sich Mut und wusste, dass er damit sein schlechtes Gewissen ruhig stellte. Jenes Teil, das er jahrelang benebelte, das sich trotzdem nicht totkriegen ließ. Nun war die Zeit gekommen, wo sich das Gewissen nicht mehr beruhigte, sondern vielmehr seinen Tribut einforderte, dem Waldschütz nicht auswich.
„Aufrichtigkeit gehört zwar nicht zwingend zum Beruf des Polizisten“, dachte er, „ für mich ist es lebensprägend. Wie verkommen muss eine Menschheit sein, die nur in diversen Täuschungen überlebt?“
Er würde lieber den Heldentod sterben, als mit dem Gefühl herumzulaufen, einem Menschen das Leben zerstört zu haben. Waldschütz ertappte sich, wie er exakt so fühlte und dachte wie Kowalski. Das vergleichbare Gerechtigkeitsverständnis, das nicht den geringsten Fehler tolerierte, sondern darauf aus war, diesen gnadenlos zu sanktionieren. Vergebung existierte nur in einem schmucken Buch, das für die Menschheit jegliche wertbildende Bedeutung eingebüßt hatte.
„Heutzutage gestalten die Menschen ihre Gesetze selbst“, sagte sich Waldschütz, „da überleben keine Weicheier, nur Menschen, die sich dem Gericht der Mitmenschen stellen, werden überleben.“
Er sprach der Selbstjustiz das Wort und schämte sich nicht, dass ihm als Beamten das passierte.
„Würden wir alle statt den Scheißkram wie Ethik lernen, wie wir miteinander klarkommen und eigenständig die Regeln aushandeln, wäre die Welt wahrscheinlich besser, zumindest ehrlicher.“
Ein hehrer Gedanke, den er noch nicht zu Ende gedacht hatte, als er Bielefeld erreicht hatte. Jetzt waren es nur noch wenige Augenblicke, bis er das Epizentrum des schlechten Gewissens, den Knast Bielefeld, sehen würde.
„Bin gespannt, ob Kowalski dort noch einsitzt?“,sagte er und klingelte an der Eingangstüre. Ein Justizvollzugsbeamter empfing und führte ihn in die heiligen Halle der deutschen Sühne, wo vom richtigen Weg abgekommene Menschen wieder im Training die Kurve kriegen sollten. Waldschütz war in dem Moment froh, dass er das Smartphone im Auto abgelegt hatte. Er wollte als Zivilist seiner Vergangenheit Auge in Auge gegenübertreten. Sofern das möglich war.
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