Der Regenbogenkönig. Alexandra Bauer
der Vögel und dem Rauschen der Blätter, wenn der Wind eine sanfte Brise durch das Geäst der Bäume schickte.
„Buliko, steh auf!“, rief plötzlich eine Stimme neben ihm.
Er öffnete ein Augenlid und schloss es gleich darauf wieder. Vor ihm stand Asdias. Die beiden kannten sich schon seit Kindertagen und im Laufe ihres Lebens war ihre Freundschaft so tief geworden, dass sie beschlossen hatten, sich niemals zu trennen. Aus diesem Grund waren sie einst zusammen fortgezogen, bis sie das Dorf Daras gefunden hatten.
Die meisten ihrer Nachbarn waren ebenfalls Schnuffel, aber auch Zentauren, Zwerge und Menschen wohnten hier.
„Steh auf“, wiederholte Asdias.
Buliko stöhnte. „Oh, Asdias! Was willst du? Ich bin gerade so schön faul.“
„Du scheinst vergessen zu haben, was heute für ein Tag ist. Wir haben Markt“, erinnerte ihn sein Freund.
Brummend kuschelte sich Buliko noch tiefer in den Wolkenboden ein. „Na, wenn schon. Ich habe heute keine Lust, zum Markt zu gehen. Es ist ein wundervoller Tag, um faul zu sein.“
„Vom Faulenzen besorgt sich aber kein Essen“, versetzte Asdias lachend.
„Asdias, bitte! Wir können die Sachen bestimmt nächste Woche noch holen.“
Asdias pustete fassungslos. „Nichts da!“, erwiderte er mit dem Zeigefinger winkend. „Du weißt genau, dass das nicht geht. Wir haben kaum noch etwas zu essen im Haus. Außerdem möchte ich dich erleben, wenn morgen früh kein Honig auf dem Tisch steht. Du kannst deinen faulen Tag morgen machen.“ Damit nahm Asdias die Hand seines Freundes und zog ihn einfach auf die Füße.
„Du bist immer so schrecklich vernünftig, habe ich dir das eigentlich schon einmal gesagt?“, schimpfte Buliko, während er sich einige Wolkenflöckchen vom Fell klopfte.
„Ja, schon oft“, grinste Asdias und lief voran. Buliko folgte ihm ohne Widerworte.
Marktag war im Regenbogenreich etwas Besonderes. An diesem Tag versammelten sich alle auf dem Dorfplatz und besorgten Obst, Gemüse und andere Dinge für die kommende Woche.
Buliko und Asdias zogen an einigen Häusern vorüber und blieben vor einem gepflegten Garten stehen.
„Meinst du, dass Zeidor schon weg ist?“, fragte Buliko.
Asdias zuckte die Schultern. „Sieh doch mal nach.“
Zeidor war ein Zentaur und ihr Freund. Er hatte Asdias und Buliko während der ersten Zeit geholfen, sich im Dorf zurechtzufinden. Seitdem waren sie Freunde und pflegten immer gemeinsam auf den Markt zu gehen.
Asdias öffnete die Haustür und rief den Namen des Zentauren, doch niemand antwortete.
„Er ist schon fort“, stellte Asdias fest.
„Vielleicht treffen wir ihn auf dem Markt“, meinte Buliko.
Asdias nickte. „Anscheinend sind wir sehr spät dran.“
„Anscheinend“, bestätigte Buliko und die Schnuffel gingen weiter.
Die Freunde ließen noch einige Häuschen hinter sich, dann erreichten sie den Marktplatz. Viele Stände mit bunten Sonnendächern reihten sich dicht an dicht aneinander. Sie hatten zwar Besitzer, diese waren jedoch nur in der Frühe gekommen, um ihre Waren dort unterzubringen. Da es im Regenbogenreich kein Geld gibt, muss sich auch niemand um seinen Stand kümmern. Jeder darf sich nehmen, was er braucht.
Während sie über den Markt schlenderten, trafen Buliko und Asdias viele Freunde und Bekannte. Sie wechselten einige Worte mit ihnen und trafen Verabredungen. An einem Obststand blieb Buliko stehen und nahm sich ein Dutzend Äpfel, die er sofort in seinen Bastkorb steckte.
„Sind das die Äpfel, die du gestern geerntet hast?“, erkundigte sich Asdias.
Buliko nickte. Natürlich waren sie das. Wie alle Bewohner im Regenbogenreich hatte auch Buliko eine Arbeit, die er zum Wohl aller verrichtete. Zusammen mit dem Besitzer des Standes, einem älteren Menschen, und Damur, einem anderen Schnuffel, erntete er Äpfel für den Markt.
Buliko und Asdias gingen weiter und bedienten sich an Gemüse- und weiteren Obstständen, bis Asdias’ Korb voll war. Zeidor hatten sie zu ihrem Bedauern nicht getroffen; die Freunde mussten sich verpasst haben.
Mit einem Schulterzucken meinte Buliko: „Vielleicht ist er schon wieder zu Hause? Lass uns dort noch mal vorbeischauen.“
Asdias lachte. „Ich denke, du willst heute deinen faulen Tag machen?“
Buliko blickte seinen Freund mit lächelnden Augen an. „Schon gut. Den kann ich auch morgen erledigen.“
Sie verließen lachend den Markt, rannten durch die Gärten und sprangen über die hier und da wachsenden Blumen – so wie das Schnuffel eben machen, wenn sie vom Markt kommen. Doch plötzlich stieß Buliko mit einem Greis zusammen und landete erschrocken auf dem Wolkenboden. Er war in Kaiafba gerannt, den Ältesten im Dorf. Auch er war auf seinem Hosenboden gelandet. Wie aus einem Traum erwacht starrte er Buliko an. Dieser stand staunend auf.
„Was ist mit dir, Kaiafba?“, fragte er den Greis, während er ihm auf die Füße half.
Schnuffel sind es nicht gewöhnt, jemanden umzurennen, denn springen sie erst einmal wild in der Gegend umher, weichen ihnen die übrigen Bewohner des Regenbogenreiches umsichtig aus.
Die Augen des Alten wanderten zerstreut von Buliko zu Asdias.
„Ich habe Schreckliches gesehen“, sagte er endlich. „Ich sah eine unabwendbare Gefahr auf das Regenbogenreich zukommen.“ Er fasste sich an die Stirn und ließ die Hand zitternd über sein Gesicht fahren.
Zunächst erschrocken, fing Asdias zu lachen an. „... eine Gefahr auf das Regenbogenreich zukommen ... wie kommst du denn auf so etwas? Das Regenbogenreich war niemals in Gefahr, und das wird es auch zu keiner Zeit sein. Du musst einen Alptraum gehabt haben“, vermutete er.
Kaiafba spielte nervös mit seinen Händen. „Es war kein Traum. Ich sah es gerade, als Buliko in mich hineinrannte.“
Buliko nahm die Worte des Alten nicht so gelassen auf wie sein sonst so vernünftiger Freund. Er kannte Kaiafba gut und jede Vision hatte sich stets als wahr und keinesfalls als Spinnerei erwiesen. Noch nie hatte er Kaiafba derart aufgewühlt erlebt.
„Was hast du gesehen?“, wollte Buliko wissen.
„Ich sah Angst. Angst und Hilflosigkeit der Wolkenreichbewohner“, stammelte Kaiafba. „Dem Regenbogenreich stehen schwere Zeiten bevor.“
Buliko nahm die Hände des Alten in die seinen. „Hast du die Gefahr erkannt?“, fragte er ruhig.
Der Greis schüttelte den Kopf, dann entzog er sich Bulikos Blick, sah ihn mit leeren Augen an und ging gedankenverloren fort.
„Mach dir mal keine Sorgen, Buliko. Du darfst Kaiafbas Worte nicht ernst nehmen. Er scheint allmählich seinen Verstand zu verlieren“, versuchte Asdias seinen Freund zu beruhigen.
„Ich weiß nicht. Du kennst Kaiafba nicht so gut wie ich. Wenn er etwas sah, hat das sicher seinen Grund“, entgegnete Buliko nachdenklich.
Die nächsten Wochen verstrichen, ohne dass etwas Sonderbares geschah. So vergaß Buliko die Worte des Greises rasch. Nach der fünften Woche jedoch ging eine Nachricht durch das Dorf, welche ihm die Vision des Alten schlagartig in Erinnerung rief. Er und Asdias saßen gerade bei einem festlichen Mittagessen, als Zeidor die Tür aufstieß.
„Die Regenbogen verlieren ihre Farbe!“, verkündete er aufgeregt. „Die Regenbogen verlieren ihre Farbe!“
Buliko verschluckte sich vor Schreck. Tränen schossen ihm in die Augen und er begann zu husten. Asdias sprang auf. „Was sagst du da?“, rief er fassungslos.
„Habt ihr es noch nicht bemerkt? Schaut euch an! Schaut mich an! Die Farben des Regenbogenreiches sind über Nacht verblasst!“, entgegnete Zeidor außer Atem.