Tag 1 - Als Gott entstand. Stefan Koenig

Tag 1 - Als Gott entstand - Stefan Koenig


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mit den Händen an einem Ast fest, um mit dem Fuß danach zu greifen. Geht er dagegen auf der Erde, so stützt er sich auf die zusammengebogenen Finger der Hände. Er benützt also oft seine Hände als Füße und die Füße als Hände. Aber nicht nur die Verschiedenartigkeit im Bau der Hände und Füße, sondern noch etwas anderes, sehr Wichtiges lassen jene Dresseure außeracht, die aus Schimpansen Menschen zu machen suchen. Sie vergessen, dass das Gehirn des Schimpansen viel kleiner und unkomplizierter ist als das des Menschen.

      Pawlow, der während langer Jahre die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns studiert hatte, beobachtete mit dem größten Interesse das Benehmen seiner Gäste Rosa und Rafael. Er verbrachte lange Zeit im Affenstall, studierte ihr Verhalten und stellte fest, dass es ungeordnet und weitgehend verständnislos war. Ehe sie eine Sache beendeten, begannen sie schon eine neue.

      Voller Ernstes sehen wir Rafael damit beschäftigt, seine Pyramide zu bauen. Plötzlich bemerkt er einen Ball, wirft die Würfel um und lässt den Ball zwischen dem Boden und seiner langen, behaarten Hand hin- und herspringen. Im nächsten Augenblick ist der Ball vergessen: Rafaels ganze Aufmerksamkeit gilt einer Fliege, die am Boden kriecht. In den chaotischen Handlungen des Affen spiegelt sich deutlich die chaotische Arbeit seines Gehirns, während die Arbeit des menschlichen Gehirns gar nicht ungeordnet, sondern gesammelt und konzentriert ist. Und doch ist der Affe dem Leben im Wald ausreichend angepasst und besitzt genug Verständigkeit für jene Welt, an die er durch viele unsichtbare Ketten gebunden ist.

      Einmal kam ein Filmregisseur in die Wohnung von Rosa und Rafael, um die Beiden zu filmen. Nach seinem Drehbuch sollten die Affen für kurze Zeit aus dem Haus gelassen werden. Kaum waren sie frei, kletterten sie sofort auf einen nahen Baum und begannen voller Begeisterung, mit den Händen an einem Ast hängend, zu schaukeln. Auf dem Baum fanden sie es viel gemütlicher als zu Hause in ihrer gut eingerichteten Wohnung.

      In Afrika lebt der Schimpanse in den oberen Stock­werken des Waldes. In den Zweigen baut er sich sein Nest. Er klettert auf den Baum, wenn er vor einem Feind flüchtet. Auf dem Baum findet er sein Essen – Früchte und Nüsse. Er hat sich den Bäumen so angepasst, dass er sich auf einem senkrechten Stamm viel besser bewegt als auf ebener Erde. Wo kein Wald ist, findet man auch keine Schimpansen.

      In den 1980er-Jahren flog eine Forscherin nach Kamerun in Afrika, um wieder einmal das Leben der Schimpansen in ihrer Heimat zu studieren. Sie fing zehn Schimpansen ein und siedelte sie in der Nähe ihres Hauses im Wald an, so dass sie sich ganz ungestört fühlten. Damit sie nicht weglaufen konnten, baute sie ihnen einen unsichtbaren Käfig. Zur Herstellung dieses Käfigs genügte ein Werkzeug: eine Motorsäge. Die Holzfäller brauchten nur die Bäume rings um eine abgesteckte Fläche zu fällen, so dass eine kleine Wald-Insel inmitten einer Lichtung übrigblieb. In dieses Wäldchen kamen die Affen.

      Die Berechnung der Forscherin war richtig. Der Affe ist ein Waldtier. Freiwillig würde er den Wald nicht verlassen. So wie es dem Eisbären unmöglich ist, in der Wüste zu leben, so kann ein Affe nicht auf einer Lichtung existieren.

      Aber wenn der Schimpanse den Wald nicht verlassen kann, wie gelang dies seinem Verwandten, dem Menschen?

      Unsere Waldvorfahren verließen ihren Käfig nicht innerhalb eines Tages oder eines Jahres. Hunderttausende von Jahren vergingen, bis sie sich soweit frei gemacht hatten, dass sie aus dem Wald in die Steppe und auf die wenig bewachsene Ebene hinaustreten konnten. Wenn es einem Baumtier gelingen sollte, die Kette, die es an den Wald fesselte, zu zerreißen, musste es vor allem vom Baum herabsteigen und lernen, auf ebener Erde zu gehen.

      Auch heute fällt es dem Menschen schwer, gehen zu lernen. Wer von uns kennt sie nicht, die Kriechkinder aus der Krabbelstube. Krabbelkinder sind Kinder, die nicht mehr an ihrem Platz bleiben wollen, aber noch nicht gehen können. Es dauert fast einen Monat (bei einigen etwas kürzer, bei anderen etwas länger), bis sich das kriechende Kind in einen Fußgänger verwandelt hat. Aufrecht zu gehen, ohne sich mit den Händen auf den Boden zu stützen oder sich an anderen Gegenständen festzuhalten, ist gar nicht einfach. Da hat es das Fohlen und fast alle anderen Tiernachkömmlinge einfacher. Hierin wiederspiegelt sich unser Jahrtausende langer Kampf ums aufrechte Gehen.

      Gehen zu lernen ist viel schwieriger, als Rad fahren zu lernen. Während ein Kind Monate braucht, um sicher aufrecht laufen zu lernen, brauchten unsere Vorfahren zu diesem wichtigen Entwicklungsschritt Jahrtausende. Zu jener Zeit, als unsere Ahnen noch auf Bäumen lebten, geschah es zuweilen, dass sie auf den Boden hinabstiegen. Und es ist möglich, dass sie sich dabei nicht immer mit den Händen auf die Erde stützten, sondern zwei oder drei Schritte nur auf den Hinterbeinen machten, wie das der Schimpanse manchmal tut. Aber es sind zwei ganz verschiedene Dinge, zwei, drei Schritte zu machen – oder fünfzig oder hundert.

      Als unsere Vorfahren noch auf den Bäumen lebten, lernten sie schon, die Hände anders zu gebrauchen als die Füße. Mit den Händen griffen sie nach Früchten und Nüssen, bauten sie ihre Nester auf den Stämmen. Die gleiche Hand aber, die eine Nuss greifen konnte, vermochte auch einen Stein und einen Stock zu greifen. Und einen Stein oder einen Stock in der Hand zu halten, das bedeutete eine KRÄFTIGERE und LÄNGERE Hand.

      Mit einem Stein kann man eine Nuss zerschlagen, deren Schale so hart ist, dass die Zähne sie nicht mehr aufknacken können. Mit dem Stock vermag man in der Erde nach essbaren, proteinhaltigen Wurzeln zu graben. Und nun begann der Menschenvorfahr, sich die Nahrung immer häufiger mit den neuen Hilfsmitteln zu verschaffen. Mit dem Stock grub er aus der Erde Knollen und Wurzelgemüse. Mit Hilfe des Steines zerbröckelte er morsche Baumstümpfe und verschaffte sich die Larven von Insekten.

      Aber damit die Hände arbeiten konnten, mussten sie von anderen Tätigkeiten freigehalten werden. Je mehr die Hände beschäftigt waren, desto häufiger mussten die Füße versuchen, allein zu gehen. So wurden die Füße von der Hand gezwungen, gehen zu lernen, und die Hand wurde von den Füßen vom Gehen befreit, um arbeiten zu können. Auf der Erde erschien ein neues Wesen, das es früher nicht gegeben hatte, das sich auf den Hinterbeinen bewegte und mit den Vorderbeinen arbeitete.

      Äußerlich war dieses Wesen einem Tier sehr ähnlich. Aber könntet ihr sehen, wie es mit einem Stock oder einem Stein hantierte, würdet ihr sofort sagen: Dieses Tier müsste man eigentlich als einen vorzeitlichen Menschen bezeichnen. In der Tat, nur der Mensch versteht es, mit Werkzeugen umzugehen. Tiere haben keine Werkzeuge.

      Wenn eine Springmaus oder ein Maulwurf in der Erde graben, so tun sie das nicht mit einem Spaten, sondern mit ihren eigenen Pfoten. Wenn eine Maus die Wurzel eines Baumes durchschneidet, so tut sie das nicht mit einem Messer, sondern mit ihren Zähnen. Und wenn der Specht die Borke des Baumes abmeißelt, so benutzt er keinen Meißel, sondern seinen Schnabel.

      Unser Vorfahre hatte weder einen Meißel-Schnabel noch Spaten-Pfoten noch Nagezähne, scharf wie Messer. Er hatte etwas viel Besseres als alle Schneide- und Eckzähne. Er hatte seine Hand, mit der er sich aus einem vom Boden aufgelesenen Stein eine Schneide und aus einem vom Baum gebrochenen Ast einen Grabstock machte.

      Während all dieser Ereignisse änderte sich allmählich auf der Erde das Klima. Vom Norden rückte das Eis langsam nach Süden vor. Die Berge drückten sich die Schneekappen tiefer in die Stirn. Dort, wo unsere Waldvorfahren lebten, wurden die Nächte immer kühler, die Winter immer kälter. Noch war das Klima warm, aber man konnte es nicht mehr heiß nennen. Auf den Nordabhängen der Hügel machten die immergrünen Palmen, Magnolien und Lorbeerbäume den Eichen und Linden Platz. Noch heute findet man in den Strandablagerungen Abdrücke von Eichen- und Lindenblättern, die irgendwann durch starke Regefälle in die Flüsse gespült wurden.

      Der Urmensch mied die kalten Winde, er zog sich in Höhlen auf den südlichen Abhängen zurück, wo noch Feigenbaum und Weinstock wuchsen. Die Grenze der tropischen Wälder zog sich immer weiter nach Süden zurück. Und gemeinsam mit diesen Wäldern zogen auch ihre Bewohner. Der urzeitliche Elefant ging fort, und immer seltener wurde der Säbeltiger Machairod.

      Wo einst undurchdringliches Dickicht war, traten die Bäume auseinander und bildeten Lichtungen, auf denen gigantische Hirsche und Nashorne weideten. Manche Affen zogen fort, andere starben aus. Im Wald fanden sich immer weniger Weintrauben, immer seltener wurden die Feigen- und Nussbäume. Es war auch nicht mehr so leicht, sich durch den Wald zu bewegen. Er lichtete


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