Belarus (2004). Johannes W. Schottmann

Belarus (2004) - Johannes W. Schottmann


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nicht gut? Wo bist du? Was ist passiert? Er begriff, welcher Film in ihr abging. Nein, kein Überfall. Ist schon O.K. - Was ist mit dir? Du kannst nicht sprechen?! Er versuchte etwas zu sagen. Schmerzen, weiß ni... - Michael, wo bist du? Bist du bei Wilma? - Ja. - Wie soll ich dir helfen? Was kann man tun? Du musst einen Arzt rufen! Er stöhnte erneut. Welchen Arzt. Michael, reiß dich zusammen! Du rufst jetzt eins-eins-zwo an, den Notarzt, hörst du?! Mach jetzt, ich lege auf. Ich rufe dich gleich zurück. Sie legte auf.

      Ließen die Schmerzen jetzt tatsächlich nach? Ausgerechnet Helga! Dass er ausgerechnet Helga anrufen musste! Peinlich! Die Schmerzen wurden stechender. Wie sollte sie ihm helfen - von Hamburg aus?! Die Krämpfe, die ihn zu Boden gezwungen hatten - sie hörten einfach nicht auf.

      Da lag er nun, vorn an der Hose feucht vom Blumenwasser. Wie bepinkelt. Er fasste an seinem Hinterkopf. Wieder etwas Feuchtes, kein Blumenwasser. Blut an seinen Fingern.

      Was konnte er anderes tun. Eins-eins-zwo, wie sie gesagt hatte. Er wählte unter Ächzen. Hoffentlich würde er sprechen können.

      9 - Sonnenstrahlen

      Die Sonne schien durch die - zugegeben nicht ganz sauberen - Scheiben und küsste Michaels Gesicht. Er hielt die Augen geschlossen und begann - die schmeichelnde Wärme genießend - sich zu recken. Jetzt hatte er die erste Nacht in dem gerade renovierten Zimmer verbracht - und gleich das frische Laken befleckt. In der Nacht war er vor Erregung wach geworden und hatte nicht mehr rechtzeitig ein Taschentuch aus der Verpackung ziehen können.

      Von einer strahlenden Schönheit hatte er geträumt. Er war einen langen Korridor entlang gegangen und hatte gerade nach rechts abbiegen wollen, als er mit einer entgegenkommenden Frau heftig zusammenstieß. Überrascht lachend versuchten sie sich gegenseitig am Umfallen zu hindern. Sie hielten sich eng umschlungen, und durch die Kleidung hindurch spürte er die weichen Rundungen ihres Körpers, während sie ihren Kopf erregt nach hinten warf.

      Im Wachwerden hatte Michael sein Herz pochen gefühlt und hatte danach lange Zeit nicht wieder einschlafen können. Er fragte sich, wer die große Unbekannte gewesen sein könnte, mit der er da zusammengestoßen war. Helga jedenfalls nicht, dafür war die Frau zu jung, zu lebendig - und ja: zu glücklich. Momentweise glaubte er, sie kennen zu müssen - als ob er ihr Lachen schon einmal gehört hätte - aber es gelang ihm nicht, sie mit einer Frau seines wirklichen Lebens in Verbindung zu bringen.

      Auch jetzt, wo er von der Sonne längst wach geküsst worden war, fühlte er sich von dem nächtlichen Zusammenstoß noch eigentümlich benommen.

      Die wärmenden Sonnenstrahlen erschienen ihm wie ein Trost. Oder wie ein Gruß.

      Er räkelte sich auf der Matratze, spürte hier und da einzelne Sprungfedern, hörte ihr Quietschen, und begann allmählich in seine reale Welt zurück zu finden.

      Die Wände waren gestrichen. Heute würde er den Schreibtisch rüber holen und so aufstellen, dass die Erkernische frei blieb. Dort könnte er sich eine sonnige Frühstücksecke einrichten. An die Wand neben dem Schreibtisch käme das Bücherregal aus seinem ehemaligen Jugendzimmer. Damit wäre alles Nötige beisammen. Den Rest würde er sich vornehmen, wenn die Couch angeliefert wäre.

      Michael zog die Beine an, streckte sie in die Höhe und versuchte in einem Schwung ins Stehen zu gelangen. Was natürlich nicht klappte - für solche Turnübungen war er zu untrainiert. Er wälzte sich zur Seite und stützte sich beim Aufstehen mit den Armen ab.

      Er schlüpfte in die Unterwäsche, zog sich ein Hemd über und trat ans Fenster. Er schaute in die Straße. Hinten links fuhr ein LKW hupend in die Kreuzung hinein, wo ein Auto seinen Fahrstreifen blockierte. Im Bürohaus gegenüber saßen die Angestellten emsig an ihren Schreibtischen. Jemand schaute von der Straße aus hoch - unwillkürlich wich er zurück, obwohl zu bezweifeln war, dass man ihn von dort unten sehen konnte. Er begann sein Hemd über dem Bauch zuzuknöpfen und trat erneut ans Fenster. Passanten eilten vorbei, es herrschte emsiges Treiben.

      Die Aussicht von hier oben - zwei Stockwerke über der lebhaften Geschäftsstraße - würde er ab jetzt genießen können. Das könnte ihm bei aller Zurückgezogenheit das Gefühl geben, mit der Welt draußen in Verbindung zu stehen.

      Er stellte das Radio an. Irgendwelche politischen Kommentare wurden verlesen. Er ging hinüber zu Wilmas Schlafzimmer, um sich frische Kleidung zu holen. Als er das Badezimmer betrat, verdüsterte sich seine Stimmung, weil ihm wieder vor Augen kam, wie abgenutzt und veraltet die Wohnungseinrichtung noch war. Das Wohnzimmer hatte er zwar endlich fertig gestrichen, aber damit auch schon wieder die Nase voll vom Renovieren. Genau genommen könnte er es sich leisten, jemanden für das Streichen zu bezahlen. Aber das würde nur Unruhe in die Wohnung bringen.

      Missmutig begann er sich zu duschen.

      Kaum lief das Wasser an ihm herunter, als sich seine Gedanken in Bewegung setzten. Wenn Helga ihn fragen würde, ob sie ihn bei der Wohnungseinrichtung unterstützen solle, würde er abwehren: das werde er schon allein schaffen - eben nach und nach. Walters Zettel - die standen jetzt an. Auf der Reise hatte er sich vorgestellt, sie chronologisch zu ordnen. Wenn er das richtig im Kopf hatte, war ein Teil von Walters Notizen mit Datum versehen. Vielleicht lagen sie ja längst in richtiger Reihenfolge. Obwohl - das war unwahrscheinlich: so wie sie in die Karstadt-Tüte hineingestopft waren. Sicherlich Wilmas Werk. Walter mit seinem Schreibmaschinengeklapper. Er konnte regelrecht hören, wie Wilma vom Wohnzimmer aus schimpfte, wenn er auf der Schreibmaschine herum hackte: Mach wenigstens deine Tür zu. Marthe - ihr hatte er von dem Hickhack seiner Eltern erzählt. Und hinzugefügt, dass es doch kein Wunder sei, wenn er selbst nie hatte heiraten wollen. Täuschte er sich oder hatten da ihre Augen geflackert? Einbildung ist auch eine Bildung - eine von Walters Plattitüden. Allerdings hatte Helga auch ihm öfters vorgehalten, gewisse Standardsprüche immer wieder zu bringen. Sie kannten sich einfach zu gut. Wie lange waren sie zusammen gewesen? Bestimmt fünfzehn Jahre. Vielleicht hätte jemand, der sowohl seine Eltern als auch Helga und ihn gekannt hätte, Ähnlichkeiten festgestellt. Wenn sie hier zu Besuch waren, hatten Helga und Wilma sich immer gut verstanden. Aber die kühle Wilma war ja auch nicht Helgas Mutter. Auf der Rückfahrt nach Hamburg hatte er durch Helga oft Dinge aus dem Leben seiner Mutter erfahren, von denen er noch nie gehört hatte.

      Die Sonne drängte sich jetzt auch durch das kleine und ebenfalls ziemlich trübe Badezimmerfenster. Es wäre wohl angebracht, einen Wochenplan aufzustellen und dabei auch ein paar lästige Arbeiten im Haushalt wie das Fensterputzen zu berücksichtigen.

      Und jetzt? An die Arbeit?

      Nein, heute noch nicht. Wer weiß, wie lange sich das schöne Herbstwetter noch hielt. Nach der ganzen Renoviererei musste er endlich mal raus an die frische Luft

      10 - Schweinehund

      Wilmas Beisetzung. Das Zusammensein mit den Trauergästen hatte sich in die Länge gezogen. Vieles war an mir vorüber gegangen, weil ich früher den Kontakt zur Verwandtschaft eher gemieden hatte. Meine diversen Cousins und Cousinen kannten sich untereinander weitaus besser. Helga hatte mir beigestanden, so wie das zu diesem Zeitpunkt noch selbstverständlich war.

      Als die Trauergäste endlich abgerückt waren - sie schnatterten unentwegt und man musste sie aus dem Café regelrecht hinaus schieben - bezahlte ich mit Wilmas Karte die Rechnung, und wir brachten Tante Ilse zur Bahn, Helga und ich. Dann fuhren wir in die Wohnung.

      Ich fühlte mich abgespannt und warf mich auf die Couch. Helga wollte sich ankuscheln. Etwas lustlos rückte ich zur Seite, um ihr Platz zu machen. Sie legte ihren Kopf gegen meine Brust und spürte natürlich gleich, dass ich nicht in der richtigen Stimmung war. Sie stand wieder auf, um uns Getränke zu holen. Rosé für sich; für mich Bier - das brauchte ich gegen das flaue Kuchengefühl im Bauch.

      Sie setzte sich in den Sessel und während sie anfing, meine Füße zu streicheln, unterhielten wir uns über die Trauergäste und über die ärgerliche Ansprache des Pastors, der einfache biografische Daten durcheinander gebracht hatte. Tante Ilse hatten wir versprechen müssen, sie bald zu besuchen. Nun schlug Helga vor, gleich


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