Frauen und ihr Erbe. Marianne Peternell
auf verschiedenen Wegen Tradiertes zu rekonstruieren zu versuchen. Es muss statthaft sein, das eigene Selbstbild als vollwertiges Menschenwesen in die Geschichte zu werfen wie eine Frage, um zu sehen, ob die Geschichte mit ihren Quellen und Überlieferungen diesen Entwurf auch trägt, im Bemühen sich selbst quasi einzuholen und mit einem mehr an Wissen aus dem Exkurs in die Geschichte zurückzukehren. Zweifellos wird es dabei nötig sein, besonders an dem Ausgesparten zu kratzen, an dem Nicht-Überlieferten, die Fragen neu zu formulieren, um Antworten zu suchen, die so noch nicht gegeben sind. Mein Bemühen um weibliche Präsenz in Geschichte und Gegenwart führt mich auf allen Wegen zum vielschichtigen Begriff der Mutter, die in vielen Variationen Geschichte und Gegenwart geprägt hat und das durchaus machtvoll. Auch wenn heutzutage der Begriff Mutter manchen ein Relikt aus der Vorzeit zu sein scheint, nicht mehr als der Name einer Betreuungsperson in Kinderzeiten, der man dafür dankt, die aber leicht ersetzbar ist, ist doch dieser Begriff ein seltsam zentrales Gestirn, umwölkt von vielen, auch zerstörerischen Ideologien wie der aus der Nazizeit. Man meint, in der Nazizeit wären Mütter hoch angesehen gewesen, verehrt bis zum Mutterkreuz. Aber tatsächlich gab es einen warmen Händedruck, ein Abzeichen als Dank, dass man dem Führer viele Soldaten geschenkt hat und Mädchen, die wieder „erbgesunde“ Soldaten hervorbringen werden. Die Erziehungskultur der Nazis war tatsächlich eine hartherzige und zielte darauf ab, eine „harte Jugend“ hervorzubringen, die auch bereit sein sollte zu Grausamkeit. Die NS-Erziehungsratgeber von Johanna Haarer („Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ und „Unsere kleinen Kinder“) zeigen abschreckende nationalsozialistische Maximen. „Haarers Erziehungskonzept zielt auf die Einordnung in die Volksgemeinschaft, auf militärische Tugenden wie Mut, Opferbereitschaft, Disziplin, Führungsstärke, Gehorsam, Pflichtgefühl, Ordnung, Sauberkeit, Schmerz- und Gefühlsunterdrückung, Verachtung von Schwäche. Die Mutter wird für die gelungene Heranzüchtung solcher Charaktereigenschaften verantwortlich gemacht und bei Misslingen schuldig gesprochen“(Gudrun Brockhaus: Muttermacht und Lebensangst – Zur Politischen Psychologie der NS- Erziehungsratgeber Johanna Haarers, S. 63 in „Mütterliche Macht und väterliche Autorität“. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXVI (2008))
Ich werde es wagen, mich dem Begriff der Mutter (und in dem Zusammenhang auch dem Begriff Vater) auf neue Weise zu nähern. Denn Psychologen und Psychologinnen wissen schon seit Langem über die prägende Bedeutsamkeit der ersten Erfahrungen im Kinderleben mit der Mutter wie auch dem Vater Bescheid, weshalb ihre Rolle nach wie vor besonders bedeutsam und kulturprägend ist, auch wenn im deutschen Diskurs die Nazizeit einen Bruch darstellt, über den man sich noch nicht ausreichend verständigt hat. Heutzutage ist allein die Erwähnung, dass Mütter kulturprägend sind, verdächtig, dass der Sprecher/die Sprecherin der politisch Rechten angehört. Es ist ähnlich wie beim Begriff „Heimat“, den Alexander van der Bellen als Linker provokant ins Zentrum seiner politischen Bewerbung ums Bundespräsidentenamt gestellt hat. Zum ersten Mal gibt es nun ein Buch von linken Intellektuellen mit dem Titel „Unser Land“ (2020) aus dem Falter-Verlag, die den Begriff „Heimat“ nicht den Vilimskys und den Gabaliers, also der Rechten überlassen wollen. Aber auch schon Peter Turrini und Wilhelm Pevny haben mit ihrer Alpensaga der österreichischen „Heimat“ ein Denkmal gesetzt.
Ich möchte den Begriff der Mutter, der Mütterlichkeit, des Vaters, der Väterlichkeit ebenfalls nicht der Rechten schenken. Mütter haben wir alle, es geht nicht darum, das Kind mit dem Bade auszuschütten und Frauen das Muttersein abzugewöhnen, bzw. sie möglichst rasch nach der Geburt wieder in der Arbeitswelt haben zu wollen, weil sie sonst in Gefahr geraten könnten, als reaktionär zu gelten.
In seltsamer Korrelation zu der aus der Überlieferung ausgesparten Geschichte der Frauen steht die Geschichte des einfachen Volkes, das ebenfalls kaum auf Überlieferung verweisen kann. Es wurde zwar versucht, Alltagskultur beispielsweise des Mittelalters durch Quellenforschung zu rekonstruieren. Der Weg jedoch ist auch hier blockiert und sperrig, da tatsächlich kaum überliefert wurde, wie das Leben des Volkes sich tatsächlich vollzog, welchen Überzeugungen und Glaubensvorstellungen und Riten es de facto folgte und wie es sein Leben verwirklichte. Es gibt aber auch hier bereits Forschungsergebnisse. Die jüngste Geschichte des Faschismus wurde mittels Dokumentationen durch Zeitzeugen in dieser Hinsicht relativ umfassend erarbeitet, wenn auch in der historischen Tiefendimension noch nicht ausreichend erfasst. Besonders die Frauen- und Männerkonstruktionen der Nazizeit sind von so bedeutenden Theoretikern wie Klaus Theweleits „Männerphantasien“ angeschaut, aber noch nicht ausführlich genug erfragt worden. Denn sonst käme man nicht auf die Idee, die Verführbarkeit des Volkes durch Populisten auf seine „Dummheit“ und auf seine Neigung zum Reaktionären und Faschistoiden zu reduzieren. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten.
Auch die Geschichte der Männer ist eine sehr vielfältige. Sie als eine der geglückten und ihr volles menschliches Potential ausschöpfendes herrschendes Geschlecht aufzufassen, an dessen Produktionen und Lebensformen die Frauen jetzt nur noch Anschluss suchen müssten, geht ebenfalls an der Realität weit vorbei. Die Suche nach dem wahren Menschenbild, nach dem wahren Männer- und Frauenbild steht auch für Männer an.
In Wahrheit ist es dringend nötig, den Begriff des Menschen und der Entfaltung all seiner/ihrer wesenhaften Anlagen in historischer Tiefendimension gegen alle Unterdrückung zur Geltung zu bringen, um weiteren gesellschaftlichen Deformationen und Fehlentwicklungen wirksam entgegen treten zu können.
Ich befasse mich in meiner Arbeit nicht mit Menschen aus dem Transgenderbereich oder mit den vielfältigen kulturellen Varianten von Frauenleben, sondern versuche über Menschen zu sprechen, die die reproduktive Kraft des Empfangens und Austragens von Kindern von Natur aus als Potential in die Wiege gelegt bekommen haben und in der großen Mehrheit als Frauen bezeichnet werden können.
2Weibliche Konstruktion heute
In unseren Tagen haben sich die Debatten in neuer Weise entfaltet, der Einzug der Frauen in die kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Institutionen bleibt nicht ohne Folge.
Als Werk von nachhaltiger Wirkung sei hier Judith Butlers „Das Unbehagen der Geschlechter“ herausgegriffen. Butler verwendet den Begriff der Performativität ähnlich wie John L. Austin, der Sprache auch von der Seite des Sprachhandelns untersucht hat. Er bezeichnete Sprechakte als „performative“ Sprechakte, die das, was sie benennen, gleichzeitig in Kraft setzen. Worte als „performative Akte“ beschreiben nicht in erster Linie, sondern vollziehen und stellen Wirklichkeit her: „Ich erkläre euch zu Mann und Frau.“ ist ein explizit performativer Sprechakt, man kann jedoch auch Sätze wie den Satz „Der Animismus ist tot“ als performatives Sprachhandeln begreifen. Sprache erzeugt und konstruiert demnach Wirklichkeit, wie z. B. die Aussage „Es ist ein Junge“ einem bezeichneten Körper eine Kategorie wie etwa Geschlecht zuordnet. Performativität erzeugt durch das wiederholte Zitieren von Normen und durch Berufung auf Autorität, bzw. durch die wechselseitige Verstärkung innerhalb einer Gruppe die Wirkung von Materialität, und kann daher nicht als einzelner, absichtsvoller Akt verstanden werden, sondern vielmehr als eine sich ständig wiederholende und zitierende Praxis. Auf dieses machtvolle Sprachhandeln auch im persönlichen engen Bereich werde ich später noch zurückkommen.
Laut Butler erzeugen Sprechakte durch diese Praxis des Sprachhandelns eine Wirklichkeit, verschleiern gleichzeitig aber ihre Geschichtlichkeit und ihren Bezug auf Konvention.
In ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ meint Judith Butler, dass Frauen nicht als Gruppe mit gemeinsamen Merkmalen und Interessen anzusehen sind, da ethnische, kulturelle, klassenspezifische Differenzen zwischen Frauen von übergeordneter Bedeutung wären, was sicher teilweise wichtig ist. Außerdem wäre das binäre System männlich-weiblich ein Konstrukt, das die Auffassungen des Patriarchats verfestige. Dem stünden die feministischen Forderungen nach Gleichheit grundsätzlich entgegen. Sie versteht also die Zuschreibung von männlich und weiblich als performative Akte, die Materialität erst durch die Machtverhältnisse im Patriarchat erhielten, beruft sich auf prinzipielle Gleichheit über das kulturgeschichtlich geformte ‚gender’ hinaus bis in das biologische Geschlecht „sex“ hinein und macht dem Feminismus den Vorwurf, unter Berufung auf ein besonderes Weibliches die patriarchalen Begriffe zu übernehmen, umzukehren und zu verhärten. Butler