Gebrochenes Schweigen. Oliver Trend
„Ich verstehe!“, erwiderte ich tonlos. Meine Gedanken kreisten plötzlich um den seltsam gekleideten alten Mann, der mir im Gebüsch begegnet war. Er wurde bestimmt auch umgebracht, so wie Chevaron und all die anderen. Ich fragte mich, ob sie wohl im Himmel waren und auf mich heruntersahen. Vielleicht beschützen sie mich ja, und alles wird gut! So, wie Schwester Lucia sagt!
Die Schwester zog ihre Stirn kraus und nickte ebenso, während sie mich aus den Augenwinkeln beobachtete. „Ich denke, es geht in Ordnung, wenn du dich noch ein Weilchen ausruhst, Liebes!“, sie strich mir über die Wange und lächelte, „damit du wieder zu Kräften kommst!“ Sie stand auf und verließ das Zimmer.
Ab dem vierten Tag musste ich Schwester Lucia helfen, die Leintücher von den mehr als hundert Betten abzuziehen, anschließend zu waschen und nach dem Trocknen wieder auf die Matratzen zu spannen. Die Latrinen auf allen Stockwerken der provisorischen Festung zu säubern und für die Soldaten zu kochen. Und wenn Sie bei „provisorisch“ denken, es handle sich um einige Stützwerke und Verstrebungen, dann irren Sie sich gewaltig! Überall türmten Soldaten, die Atemmasken trugen, Säcke voller Sand vor den Ausgängen. Schafften so eine Art Schutzwall, hinter dem sie sich verstecken konnten, wenn es zum Angriff kommen sollte. Viele der oberen Öffnungen schützten sie auf ähnliche Weise, mit dem Unterschied, dass sie nach einigen Abständen ein großes Maschinengewehr dazwischen aufstellten. Morgens früh bis spät abends wurden Befehle durch die Gänge gebrüllt. Soldaten hasteten umher wie aufgescheuchte Ameisen. Andauernd kamen hupende Lastwagen an und brachten allerlei Verbrauchsmaterial sowie einen gewaltigen Nachschub an Säcken. Auch hier trugen die Soldaten alle Atemmasken. Eigentlich waren nur die verbliebenen Schwestern und ich in den Untergeschossen ohne Gesichtsschutz unterwegs.
Auf dem Ostturm wurde seit einem Tag eine Funkanlage installiert. Überall hingen Kabel herum, über die jeder immer mal wieder fluchend stolperte. An manchen Stellen schlugen die Soldaten die Mauern ein und trugen die Steine andernorts wieder auf – alles nur, damit sie sich möglichst lange darin verschanzen konnten!
Am Ende des Tages verzog ich mich erschöpft in mein Zimmer, um mich zu waschen. Ich wollte gerade ein frisches Handtuch aus dem Schrank nehmen und öffnete ihn ahnungslos:
Drinnen hockte Maselda, eine der alten Ordensschwestern des Klosters, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Ihre weißgrauen Haare waren verfilzt und stanken nach Rauch. Auf ihrer knolligen Nase bildete sich ein fetter Pickel, fast so groß wie ein Fingernagel. In ihrer Rechten schwenkte sie ungehalten eine halbvolle Schnapsflasche, während sie im Flüsterton mit sich selbst debattierte.
Ich starrte sie erschrocken an, ohne eine weitere Bewegung machen zu können. Nicht einmal atmen konnte ich. Der scharfe Geruch des Schnapses und ein Gestank, den ich Jahre später als französischen Weichkäse identifizierte, brannten zusammen mit dem abgestandenen Rauch in meiner Lunge, sodass ich nach einigen Sekunden widerwillig husten musste.
Darauf blinzelte sie zu mir hoch und meinte nur trocken: „Willst auch einen Schluck?“, sie hielt mir die Flasche hin, „betäubt garantiert die Sinne und Schmerzen in dir!“, dabei schlug sie sich mit der anderen Hand mit geräuschvoller Gebärde an die Brust und nickte überzeugt. „Ich weiß das … ja, ich weiß das!“
Ich stand nur da, schüttelte verwirrt und eingeschüchtert meinen Kopf, während ich versuchte, nicht zu atmen.
Sie musterte mich kurz und nickte erneut. „Gut, dann mach bitte die Schranktüre wieder zu, Kind Gottes, und vergiss, dass ich hier bin!“, strenger fügte sie hinzu: „Entiende bonita!“ Sie blickte mich verächtlich an.
Ich murmelte etwas Unverständliches und schloss die Schranktür.
2
Berlin, Gegenwart. Draußen zwitschern unablässig Vögel, die den neuen Tag begrüßen. Durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden dringt spärliches Licht in das Zimmer hinein. Ich kann kaum noch meine Augen offen halten. Ich habe die ganze Nacht durchgearbeitet und erkenne nur mühsam die flimmernde Schrift auf dem Monitor vor mir. Mein Schädel pocht heftig, meine Finger schmerzen, aber die verstorbene Seele kümmert es nicht: Sie spricht unaufhörlich zu mir, unentwegt vernehme ich ihre geflüsterten Worte.
Eine Weile versuchte ich, sie zum Schweigen zu bringen, bat sie gar darum, ohne Erfolg. Darauf weigerte ich mich, weiterzuschreiben …, aber ihre Worte durchziehen meine eintönigen Gedanken in einem steten Strom, ohne dass ich es zu verhindern vermag.
Ich bin erschöpft, fühle mich hilflos und alleine. Döse indessen sogar zeitweise weg, ohne es zu merken. Dabei träume ich von Marc, meinem Beinahe-Ehemann, träume davon, wie es hätte sein können. Und für einige Augenblicke bin ich glücklich und zufrieden. Doch dann schrecke ich auf, mir bewusstwerdend, dass er tot ist. Ich frage mich unweigerlich, warum ich das hier überhaupt alles tue! Ich kann nicht mehr, halte das nicht mehr länger aus! Im Hintergrund registriere ich ständig die flüsternde Stimme, die mir unerschütterlich ihre Lebensgeschichte preisgibt. Aber plötzlich hört das Flüstern in mir auf, und ihre Stimme verstummt ohne erkennbaren Grund.
Endlich! Endlich ist sie still!
Castillo de la Tolleda in der Provinz de Lleida, nahe dem malerischen Städtchen El Pont de Suert im nordwestlichen Katalonien, Spanien. Residenz des Patrons von La Fraternitis, Felipè Melidas, Mitgliedern der Loge, einigen Angestellten und Dienern.
Sofía, eine jung wirkende, zierliche Frau mit weißer Bluse und einem passenden marineblauen Rock, gebunden an ihren Patron und Herrn, durch unsichtbare, wie unüberwindbare Stricke, sitzt an ihrem antiquierten Schreibtisch vor dem Computer und tippt im spärlichen Licht, das durch ein vergittertes Fenster hinter ihr in den Raum dringt. Sie wirkt müde, was wohl den Umständen ihres Lebens zu verdanken ist.
Bisher gelang es mir, die Angelegenheiten von La Fraternitis aus sicherer Distanz mehr oder weniger objektiv zu beobachten, ohne hindernde Emotionen. Es ist wichtig, pragmatisch an die Sache heranzugehen, damit die richtigen Entscheidungen getroffen werden können! Rechtfertigt sie sich gegenüber sich selbst. Sie erinnert sich an früher, an die Zeit, als ihr die zahlreichen Maximen von La Fraternitis und deren Logenpolitik eingetrichtert wurden. Wieder und wieder hatten sie Mitglieder des inneren Zirkels der Loge geprüft und sie ungeduldig korrigiert, wenn sie falsch antwortete. In kontinuierlicher Regelmäßigkeit wurde sie ermahnt, den Grundsätzen La Fraternitis zu folgen und nie den vorgeschriebenen Pfad zu verlassen! Sie hatte es gehasst, fürchtete sich gar zeitweilig vor den strengen Befragungen und Prüfungen. Doch sie ließ es sich nie anmerken, erledigte die ihr aufgetragenen Pflichten mit Sorgfalt und Umsichtigkeit, ohne zu maulen oder anderswie aufzubegehren. Sie beklagte sich nie, nicht einmal bei ihrem Mentor Felipè Melidas, der sie von Beginn an nahezu wie eine Tochter behandelte. Ihr Fleiß und ihr Pflichtbewusstsein sorgten unter anderem dafür, dass sie schon nach einigen Jahren in die Loge aufgenommen wurde. Seit jener Zeit arbeitet sie für den Herrn von La Fraternitis, Señor Melidas, persönlich, der von ihr stets Höchstleistungen erwartet und kein Versagen duldet. Sie ist seither quasi seine rechte Hand. Anfangs agierte sie noch oft direkt am Ort des Geschehens, indessen erledigt sie alles von hier aus. Bis gestern stellte sie nie eine Anordnung infrage, weder die Maximen der Loge noch die Anweisungen von Felipè Melidas, der in gewisser Weise auch heute noch als ihr Mentor und Patron des Castillo de la Tolleda fungiert.
In der ganzen Zeit habe ich nie wirklich daran gedacht, nach meiner Mutter zu suchen … oder meiner Tochter! Und jetzt! Meine Mutter ist tot! Sie saugt gedankenverloren an ihrer Unterlippe. Seit gestern fühle ich mich, als wäre mein Inneres nach außen gekehrt! Ich empfinde Scham, Reue! Vielleicht hätte ich mich nicht so sehr von meiner Arbeit vereinnahmen lassen sollen? Wenn ich mein vergangenes Leben so betrachte, macht es im Augenblick den Eindruck auf mich, als habe ich mich die ganzen Jahrzehnte nur vor meiner Verantwortung versteckt! Sie seufzt schweren Herzens und dem Wissen, dass das der Tatsache sehr nahe kommt. Habe ich doch tatsächlich geglaubt, dass mir mein verlängertes Leben – die beinahe „ewige Jugend“ automatisch mehr Zeit gibt! Sie kneift elegisch