Drachenschiffe vor Vinland: Ein Wikinger-Abenteuer für junge Leser. Alfred Bekker
gingen aber auch auf Nummer sicher und beteten sowohl zu Jesus Christus als auch zu Thor und Odin, weil sie der Meinung waren, dass man nie genug göttliche Hilfe bekommen konnte.
„Was ist los, Mutter?“, fragte Einar.
„Du sollst zu Großvater Björn in die Werkstatt kommen. Beeil dich!“
„Ja!“
Die Werkstatt von Großvater Björn lag im hinteren Teil des Langhauses und hatte einen eigenen Eingang.
Björn war ein großer, stattlicher Mann mit schneeweißen Haaren und einem langen Bart.
„Ah, schön, dass du kommst, Einar.“
„Was ist, Großvater?“
„Ich habe etwas für dich, das ich dir geben möchte. Nenn es ein Abschiedsgeschenk… Du wirst es drüben in dem neuen Land sicher gut brauchen können…“
Damit reichte Großvater ihm eine Axt mit kurzem Stiel, der mit Runen verziert war. Solche Äxte wurden sowohl als Waffe wie auch als Werkzeug benutzt. Einar nahm sie und betrachtete sie. Eine eigene Axt! Sie lag sehr leicht in der Hand.
„Großvater…“, murmelte Einar bewegt.
„Ich habe darauf geachtet, dass sie nicht zu schwer ist. Drüben in dem Land, in dem neuen Land im Westen, in das ihr zieht, gibt es Bäume genug. Ihr werdet daraus Häuser und Schiffe machen – und das Holz im Winter im Ofen verbrennen! Ich nehme an, da wirst du kräftig mithelfen müssen und da sollst du nicht ohne Werkzeug dastehen!“
„Danke, Großvater!“, stieß Einar hervor. „Das ist ein wirklich kostbares Geschenk!“
„Kannst du die Runen auf dem Griff schon lesen?“
„Noch nicht so gut“, gab Einar zu. Der Wanderlehrer, der die Kinder unterrichtete, war in diesem Jahr nicht gekommen. Vielleicht hatte er kein Schiff gefunden, das ihn nach Grönland mitnahm. Oder es war auch ihm dort einfach zu kalt und ungemütlich und der Lohn für eine Arbeit zu gering. Schließlich gab es anderswo Wikingersiedlungen, die viel reicher waren und wo man ihm mehr für seine Dienste geben konnte.
„Da steht: Njörd beschütze Einar!“, sagte Großvater Björn.
Njörd – der Gott des Meeres!
„Diesen Schutz werde ich sicher gut brauchen können, Großvater!“, meinte Einar.
„Steck dir die Axt hinter den Gürtel, so wie ich es auch tue! Dann bist du immer gut ausgerüstet!“
Einar tat, was Großvater gesagt hatte. Dann umarmte er ihn. „Ich danke dir!“
„Wir werden uns lange nicht sehen, Einar.“
„Freya sagt sogar, vielleicht für immer.“
„Ja, das ist sehr wahrscheinlich, denn ich glaube nicht, dass ihr noch mal zurückkehrt, wenn ihr euch erst in Vinland eingelebt habt!“
Vinland – das Weinland – so nannte man dieses neue, unbekannte Land.
„Warum kommst du nicht mit nach Vinland?“, fragte Einar. „Du, und Großmutter und alle deine Leute?“
„Ich bin zu alt“, sagte Großvater Björn. „Zu alt um unseren Hof zu verlassen und noch mal ganz von vorn anzufangen und alles neu aufzubauen. Aber für euch ist das eine gute Chance für ein besseres Leben!“
Wer waren die Wikinger?
Die Wikinger waren Seefahrer, die ursprünglich in Dänemark, Schweden und Norwegen beheimatet waren. Mit ihren Schiffen machten sie zwischen 750 und 1100 n. Chr. die Meere als Piraten unsicher, entdeckten neue Länder, eroberten Reiche und gründeten Staaten. Zuerst unternahmen sie vor allem Raubfahrten, später beherrschten sie den Seehandel in der Nord- und Ostsee. Man nannte sie auch Normannen oder Waräger.
Im Westen siedelten sie an den Küsten Irlands, Englands und Schottlands. Sie entdeckten und besiedelten Island und erreichten danach Grönland und Nordamerika. Die Gebiete in Amerika nannten sie Vinland (das bedeutet wahrscheinlich „Weinland“, vielleicht aber auch „Weideland“) und Markland (das bedeutet „Holzland“).
Normannen siedelten in der Normandie und in Sizilien. In Russland ruderten sie die großen Flüsse hinauf. Daher auch der heutige Name: „Rus“ bedeutet wahrscheinlich „Ruderer“. Sie kamen bis zum Schwarzen Meer, überquerten es und trieben Handel mit dem Kaiser von Konstantinopel und dem Kalifen von Bagdad.
2. Kapitel: Sturmfahrt des Schreckens
Ein Hornsignal ertönte.
Jetzt geht es los!, dachte Einar. Er hatte vorne am Bug seinen Platz gefunden.
Auch die letzte Kiste, das letzte Fass und die letzte Ziege waren auf die drei Schiffe geladen worden, die sich nun auf den Weg machen wollten.
Sven Bleichhaar war der Kapitän der WELLENDRACHE, einem recht breiten Schiff an dessen Spitze sich ein grimmig dreinschauender Drachenkopf aus Holz befand. Der Drachenkopf war bunt angemalt und sollte Feinde abschrecken. Man konnte ihn sogar abnehmen, wenn man in einen befreundeten Hafen einlief.
Die anderen beiden Langschiffe, die in das ferne Vinland aufbrachen, hießen SCHAUMDRACHE und SEEDRACHE.
Die SEEDRACHE war das größte der drei Schiffe und sein Kapitän war Thorfinn Karlsefni. Er führte die kleine Flotte an. Vor zwei Jahren war Thorfinn schon einmal in Vinland gewesen, und dann zurückgekehrt, um mehr Siedler dafür zu gewinnen, in das neue Land zu ziehen.
Bei Einars Vater hatte er Erfolg gehabt und deshalb brachen sie jetzt auf.
Großvater Björn und zahlreiche andere Wikinger standen am Ufer und verabschiedeten die Besatzungen der drei Schiffe. Einar winkte ihnen zu.
Die Segel wurden gesetzt und der Wind blähte sie auf.
„Setz dich in die Spitze“, wandte sich Sigrun an Freya, die bis dahin in der Mitte des Schiffs bei den Met-Fässern gekauert hatte. „Dann bist du aus dem Weg und sicher aufgehoben…“
„Ja, Mutter.“
Sigrun trug ihr silbernes Kreuz um den Hals – das Zeichen dafür, dass sie dem neuen Glauben anhing. „Jesus Christus schütze euch“, murmelte sie.
„Aber auch Thor und Odin!“, meinte Freya. „Und Njörd, weil wir doch über das Meer fahren!“ Die kriegerischen Götter der Wikinger erschienen Freya nämlich stärker zu sein, als der Christengott, für den die Nächstenliebe am wichtigsten war.
Sigrun lächelte. „Geh jetzt!“, sagte sie.
Freya ging zum Bug und setzte sich neben Einar. Hier an der Spitze war das Schiff schon so schmal, dass sowieso kein Erwachsener dort hätte sitzen können.
Außer Freya und Einar waren noch einige andere Kinder an Bord. Die Meisten waren schon größer als Einar und Freya, aber es gab auch einen Säugling.
170 Männer, Frauen und Kinder befanden sich insgesamt auf allen drei Schiffen. Genug, um in Vinland eine neue Siedlung zu gründen.
Einar blickte zurück zur Küste – aber schon bald konnte man nichts mehr von der alten Heimat sehen. Überall umgab sie jetzt nur noch das Meer. Die drei Drachenschiffe pflügten durch die aufgewühlte See.
Manchmal spritzte Einar die kalte Gischt ins Gesicht, wenn der Bug sich durch eine Welle drängte.
Aber noch schien die Sonne und es war gutes Wetter. Der Wind blies kräftig und sorgte dafür, dass alle drei Schiffe gute Fahrt bekamen.
Einars Vater Sven kam zur Schiffsspitze. Er brachte Einar und Freya zwei Tau-Enden und gab jedem der beiden Zwillinge eins davon. „Hier, schlingt es euch um die Brust und bindet das andere Ende am Schiff fest!“, sagte er. „Schließlich sollt ihr nicht bei der ersten wirklich großen Welle über Bord gerissen werden!“
„Meinst