Sex & Gott & Rock'n'Roll. Tilmann Haberer
Jetzt musste sie sich wirklich setzen.
***
Zur selben Zeit, während Katharina sich fertig macht für diesen Tag, steigt Johannes Baumann die Treppen zu seiner Wohnung im dritten Stock hoch, einen schweren Stoffbeutel in der Hand. Noch schaffst du die Treppen mühelos. Aber wie lange noch? Natürlich, sechzig ist kein Alter. Trotzdem. In fünf Jahren die Rente. Ein neuer Lebensabschnitt. Der dritte Lebensabschnitt, welch blöder Euphemismus. Es ist der letzte.
Er setzt den Einkaufsbeutel vor der Tür ab, fingert den Schlüsselbund aus der Hosentasche. Trägt die Einkäufe in die Küche. Er hat Champagner besorgt. Und Orangensaft, Schafsjoghurt, gesalzene Butter, eine Mango, Flugware. Fürs Frühstück, falls sie bei ihm bleibt. Ziemlich bescheuert, das weiß er.
Heute Abend treffen sie sich zum Essen, bei seinem Lieblingsitaliener, den sie auch kennt. Dass wir uns da nie begegnet sind… Ohne eine Sekunde zu zögern hat sie zugesagt. Nur die Frage: „Und was ist mit deiner Margit?“ Sie konnte sein Schulterzucken durchs Telefon nicht sehen. Aber hören. „Wir sind seit Jahren getrennt. Hat irgendwie nicht lange gehalten.“ Keine Reaktion von ihrer Seite. Kein Wann hätte je eine Beziehung lange gehalten bei dir… Er hat nicht gesagt, dass es nach Margit noch zwei andere gab, sie kann es sich auch so denken. Auch wenn es nie mehr als sechs Jahre gehalten hat, nicht einmal seine Ehe – allein zu leben war nie seins.
Nur mit ihr, mit ihr hat er nie zusammengelebt.
Und obwohl sie der wichtigste Mensch in seinem Leben ist, hat er sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Stimmt nicht, gesehen hast du sie. Ja, zweimal. Einmal stand er an der Ampel, sah sie drüben die Straße überqueren, auf einem stabilen dunkelgrünen Hollandrad, allein. Er musste nicht zweimal hinsehen, um zu wissen: Sie ist es. Und nun? Rufen? Winken? Hinterherrennen? Haltet sie auf!
Nichts von alledem. Wie betäubt stand er da, unbeweglich. Als ob etwas in ihm sagte: Nein. Lass gut sein. Die Kiste ist vorbei, ein für alle Mal.
Das zweite Mal saß er in der Straßenbahn, sah sie draußen auf dem Gehsteig. Der Schock, sie zu sehen, ließ ihn kurz aufschrecken. Wenn ich ihr wie zufällig auf der Straße begegne… Aber wozu. Um sich wieder auf das alte Spiel einzulassen, auf eine weitere Runde? Um sich die nächsten Verletzungen abzuholen? Er ließ die Straßenbahn weiterfahren, stieg nicht aus, rannte nicht den Weg zurück. Konnte an diesem Tag nichts Vernünftiges mehr anfangen.
Natürlich hat er daran gedacht, sie einfach anzurufen. Immer wieder. Sie hatte ihre alte Telefonnummer zwar abgeschaltet, damals, aber natürlich hätte er seine Recherchen auch früher schon anstellen können. Er tat es nicht, zwanzig Jahre lang. Wollte sie aus seinen Gedanken verbannen, aus seinem Gefühl. Was natürlich nicht gelang. Natürlich? Natürlich.
1
Es gibt keine Zufälle, sagt man oft so leicht dahin. Aber was sollte das gewesen sein, als sie sich dieses eine Mal doch trafen, mitten in München, auf einem zugigen Bahnsteig? Sie hatten den Kontakt verloren, zum dritten, zum vierten Mal? Egal. Er hatte jedenfalls nicht im Traum damit gerechnet, ihr zu begegnen, wusste nicht einmal, dass sie in der Stadt war. Er wartete am Stachus auf seine S-Bahn, 1980 war es, Anfang Mai. Da sah er sie. Erkannte sie im ersten Moment nicht. Sah nur eine Frau in roten Klamotten. Ärmellose Weste aus weinrot gefärbtem Zottelfell, darunter ein orangerotes T-Shirt, farblich passender knöchellanger Rock. Selbst das Stirnband, das die taillenlangen Haare zurückhielt, war rot und orange gemustert. Dann darunter ihr Profil. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, oder auch zwei. Jeannie! Kann das sein? Zu Bhagwan ist sie jetzt gegangen? In diesem Moment drehte sie ihm das Gesicht zu, ihr Blick glitt achtlos über ihn hinweg, kehrte dann zu ihm zurück. Einen Moment lang Bestürzung, in ihrer, in seiner Miene. Er sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten, das Quietschen und Schleifen der einfahrenden S-Bahn verschluckte ihr fragendes „Johnny…?“
Er stürzte nicht auf sie zu. Auch sie stand wie angewurzelt da. „Jeannie...?“, murmelte er, und sie konnte ihn so wenig hören wie er sie, doch sie nickte. Drehte sich ihm zu. Streckte die Arme aus, als läge zwischen ihnen ein Abgrund. Dann löste sich der Bann, er konnte sich bewegen, ging zwei, drei, vier Schritte, stand einen Meter vor ihr. „Jeannie?“, fragte er wieder, und nun konnte sie ihn hören. Sie lächelte, die Arme noch nach ihm ausgetreckt. Schüttelte den Kopf. „Ich heiße Sharani.“ Vom Hals baumelte ihr die Perlenkette mit dem Bild des bärtigen Gurus.
Plötzlich musste er lachen. Absurd, so absurd das Ganze! Da stand er plötzlich Jeannie gegenüber. Als ob er sie erst gestern gesehen hätte, so vertraut war ihm ihr Anblick, ihr Lachen. Ein Teil in ihm war entzückt, ein anderer rief: Vorsicht!
Während er noch mit sich rang, ob er sie umarmen sollte, nahm sie ihm die Entscheidung ab. Sie überbrückte den letzten Meter mit ein, zwei Sätzen, sprang auf ihn zu, hängte sich an seinen Hals, ihr duftendes, weiches Haar an seiner Wange, ihr warmer, lebendiger Körper an seinen gepresst. „Jeannie“, wiederholte er, etwas anderes fiel ihm nicht ein. „Jeannie!“
Wie lange sie so da standen, weiß der Himmel. Doch irgendwann lockerte sie ihre Umarmung, fasste ihn an den Oberarmen, schob ihn ein Stück von sich weg, sah ihm in die Augen. „Johnny! Mensch! Das gibt’s nicht!“
„Ich heiße Hannes“, erwiderte er mit ironischem Lächeln. „Wenn du – wie war das? – Sharani bist, dann bin ich Hannes.“
„Nichts mehr mit Jeannie und Johnny?“
„Nichts mehr mit Jeannie und Johnny“, bekräftigte er. „Das ist vorbei.“
Sie nickte versonnen. Einen Augenblick lang wirkte sie abwesend, versunken in der Vergangenheit, doch dann gab sie sich einen Ruck. „Mensch, Joh… also, Hannes… o verflixt, ich glaube, daran kann ich mich nicht so schnell gewöhnen.“
„Meinst du, Sha… Shadingsda ist leichter?“
Sie lachte. „Ma Deva Sharani.“ Dann wurde sie ernst, schlagartig. „Johnny, Hannes, wie auch immer – irgendwie kann das eigentlich gar nicht sein, dass wir uns ausgerechnet heute hier treffen.“
„Wieso ausgerechnet heute?“
Sie hielt ihn noch immer an den Oberarmen fest. „Morgen fliege ich nach Poona und bleibe längere Zeit dort. Und ausgerechnet am Tag vorher treffe ich dich. Crazy.“
Morgen. Nach Poona. Für längere Zeit. Sie meinte es ernst.
„Und wie verbringst du den Abend vor der Abreise?“ Das hatte er nicht fragen wollen, es war ihm herausgefallen. Er würde sie sicher nicht abhalten können, in dieses Sektendorf zu fahren. Aber vielleicht konnte er ihr seine
Bedenken deutlich machen.
Sie lächelte. Schon wieder. „Wie ich meinen Abend verbringe? Mit dir natürlich!“
„Ich weiß nicht… ich habe eigentlich… – ach scheiß drauf, ich blase alles ab. Ich rufe an und melde mich krank. Die können auch ohne mich tagen.“
Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Also, abgemacht? Ich wollte eigentlich in der Kommune sein, aber … also, dich hier zu treffen…“
Zuerst gingen sie einen Kaffee trinken. Dann essen, zum Griechen. Jeannie – Sharani – wollte unbedingt vegetarisch essen, das war so üblich in der Sekte. Und auf Käsespätzle, damals das einzige fleischlose Gericht auf Münchner Speisekarten, hatte sie keine Lust. „Also bleibt nur ein Grieche, da kann man wenigstens was einigermaßen Frisches kriegen.“ Während Hannes frittierte Calamari nahm, bestellte sie einen Bauernsalat, dazu zermanschte Auberginen, Kichererbsenmus und extra Tsatsiki. „Aber Wein trinkst du?“, fragte er. Er hatte ja keine Ahnung, welchen Vorschriften die Bhagwans zu folgen hatten. „Natürlich“, war ihre Antwort. „Bhagwan spricht immer von Sorbas, dem Buddha.“ Alexis Sorbas, der unbekümmerte Lebenskünstler, ein Erleuchteter? Dieser Bhagwan war auf jeden Fall für Überraschungen gut.