Sex & Gott & Rock'n'Roll. Tilmann Haberer

Sex & Gott & Rock'n'Roll - Tilmann Haberer


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      aus der Leere ein Sein

      aus der Fülle eine Wahrnehmung

      ein Name

      Zeit

      ein Körper

      Raum

      Schwere

      Grenzen

      ein Zimmer, Kerzen, Rauch, Menschen. Viele liegen auf den Polstern, manche schnarchen.

      Wie viel Zeit ist vergangen? Es müssen Jahrmilliarden gewesen sein, eine Nanosekunde.

      Verwirrung.

      Ein Gefühl, ein Geschmack.

      Glückseligkeit. Sie hat die Glückseligkeit erlebt. Sie war Glückseligkeit. Sie war das All. Sie war die Myriaden Galaxien, die Abermilliarden Sonnen, sie war Raum und Zeit und Raum und Zeit waren in ihr, sie war Eins und Alles und Nichts und…

      landet wieder in dem Zimmer, in ihrem Körper, in ihrem Leben.

      Eine Spur der Glückseligkeit lebt in ihr weiter. Sie will sie festhalten und weiß instinktiv, dass das nicht geht.

      Sie will allein sein, doch da ist Utz. „Na, wieder gelandet?“

      „Wie lang war ich unterwegs?“

      „Keine Ahnung. Sechs Stunden, acht?“

      Sie schüttelt den Kopf. Sechs Stunden. Absolut unsinnig.

      „Wie war’s? Wie war deine Jungfernfahrt?“

      Sie will nichts erzählen. Das Geheimnis bewahren. Die Glückseligkeit nicht zerreden.

      „Alles war Sirup. Und ich konnte die Musik schmecken und kopfunter an der Decke gehen.“ Das kann sie erzählen und sie weiß, es ist besser, dem Wolf einen Brocken hinzuwerfen, dann gibt er sich zufrieden und reißt ihr nicht das Fleisch aus den Rippen, schneidet ihr nicht die Glückseligkeit heraus.

      Utz lachte. „Und? Gut?“

      Jeannie nickte. Sie fühlte sich unendlich müde und hellwach. „Habe ich geschlafen?“

      Utz zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich habe dich nicht bewacht. Hätte ich sollen?“

      Sie grinste schwach. „Ich muss mal.“ Ihre Rettung, wie so oft, die Toilette. Sie schaute in den Spiegel, versuchte mit der Tatsache klarzukommen, dass sie wieder einen Körper hatte. Nach Äonen des glückseligen All-eins-Seins erschien es ihr wie eine Strafe, eingesperrt zu sein in dieses materielle Etwas, von dem sie früher einmal gemeint hatte, sie sei identisch mit ihm.

      Sie behielt ihre Erfahrung für sich. Sie war ihr heilig und diese Heiligkeit durfte nicht gestört werden. Jetzt wusste sie, was Heiligkeit bedeutet. Über alles, was landläufig als heilig galt, konnte sie nur müde lächeln.

      Sie war versucht, es wieder zu probieren. Aber sie hatte genug über psychedelische Drogen gehört. Jeannie wusste, dass sich diese Erfahrung mit größter Wahrscheinlichkeit so nicht wiederholen würde. Sie wusste, dass sie ein großartiges, einmaliges Geschenk erhalten hatte, das sie nicht entweihen wollte durch den Versuch, es noch einmal zu erleben.

      Trotzdem ging sie seit dieser Nacht in der WG ein und aus. Zum einen wegen Utz, der ihr gefiel. Zum anderen, weil sie in der WG so viele interessante Leute traf. Es wurde nicht nur Gras und Acid konsumiert, es wurde nicht nur über den Kapitalismus und die Revolution diskutiert, es gab auch Leute, die wundersame Dinge erzählten vom Meditieren, von den östlichen spirituellen Wegen. Utz und Harald hatten selbst schon Erfahrungen in der Transzendentalen Meditation des Maharishi. Sie waren zwar noch nicht geflogen, wie das angeblich bei solchen Meditationen passieren konnte, aber sie hatten beide an verschiedenen Retreats teilgenommen. Und im kommenden Jahr wollten sie nach Indien fahren.

      Einmal kam einer vorbei, der Jogi genannt wurde. Ein hagerer, asketisch wirkender Dreißigjähriger mit langem, dünnem Bart, der nicht rauchte, keinen Alkohol trank und keine Drogen nahm. „Das ist doch alles überflüssig“, sagte er abfällig. „Wenn ihr meditiert, habt ihr dieselben Erfahrungen und viel bessere. Die absolute Glückseligkeit.“

       Glückseligkeit?

      Sollte es tatsächlich einen Weg geben zu ihrer Erfahrung des All-eins-Seins?

      „Kann man auch die Erfahrung machen, dass alles eins ist und man selbst Teil von allem und alles Teil von einem selbst?“ Das hatte sie gar nicht fragen wollen, aber sie war so aufgeregt angesichts der Möglichkeit, die Jogi andeutete.

      Jogi blickte milde auf sie herab. „Das ist ja genau das, wovon ich spreche. Das ist das Ziel des spirituellen Weges.“

      „Und man kann tatsächlich dahin kommen?“

      Jogi nickte bedeutungsvoll. „In der Tat, das kann man. Allerdings nicht von heute auf morgen. Du musst viele Jahre jeden Tag üben. Und du brauchst einen Meister.“

      „Und wo findet man einen Meister?“

      Jogi wiegte den Kopf. „Da wirst du schon nach Indien gehen müssen. Manche Meister kommen zwar auch in den Westen, wie der Maharishi. Aber sie bleiben immer nur kurz und wenn du wirklich den Weg gehen willst, musst du lange, lange zu Füßen des Meisters sitzen. Das geht nur in Indien.“

      In dem Moment war Jeannie klar, dass sie sich an Utz hängen musste. Er war keineswegs ihr Traummann – es gab sowieso nur einen Traummann, aber sie hatte beschlossen, den Namen Johnny nicht mehr zu denken (worin sie selbstredend grandios scheiterte). Aber immerhin, Utz hatte schon etwas. Und das reichte, um mit ihm eine Art Beziehung aufzubauen. Eine Beziehung, die eng genug war, dass er sie mitnahm auf seinen Trip nach Indien. Wo sie hoffte, endlich einen Weg zu finden, ihrer mystischen Erfahrung wieder nahe zu kommen.

      ***

      In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf. Während Utz neben ihr in seinem Schlafsack schnarchte, wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Sie war wahnsinnig aufgeregt. Wie vor dem ersehnten Rendezvous mit einem lange aus der Ferne angeschmachteten Kerl, wie vor einer Prüfung, von der ihre gesamte Zukunft abhing. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie schlüpfte aus dem Schlafsack, kletterte nach unten, stieg aus dem Bus ins Freie. Die kalte Nachtluft machte sie zittern. Vorsichtig, um die anderen nicht zu wecken, kramte sie in dem Klamottenhaufen, der sich auf dem Beifahrersitz angesammelt hatte, nach ihrem Alpaka-Pullover. Der Mond schob sich gerade über den gegenüberliegenden Hügelkamm und tauchte diese Seite des Tals in ein zauberisches Licht, während die andere im Tintenschatten lag. Ein Hund bellte in der Ferne, ein anderer antwortete. Ansonsten Totenstille. Kein Lüftchen bewegte die Blätter. Sie lauschte in die klare Stille. Erkenne das Bewusstsein, das alles durchdringt. Das bist du. Ihr war, als erklängen in der Stille auf einmal silberne Glöckchen, ein Windspiel, kaum hörbar, doch durchdringend, von einer überirdischen Süße. Sie spitzte die Ohren, um den Klang genauer wahrzunehmen, doch dann konnte sie gar nicht mehr unterscheiden, ob es wirklich Schallwellen in der Luft waren, die an ihr Trommelfell drangen, oder ob sie das Klingen nicht auf einer ganz anderen Ebene vernahm, mit einem ganz anderen Organ. Sie schlang die Hände um ihren Oberkörper, um sich halbwegs warm zu halten, und bewegte sich langsam vom Bus weg, hinunter ins Tal. Tauchte ein in den tiefen Schatten, der gar nicht so schwarz und lichtlos war, wie er von oben wirkte. Nahm die ganze Fremdheit der Umgebung auf, die Gerüche, die so anders waren als zu Hause – der Rauch der Herdfeuer aus getrockneten Kuhfladen, die Räucherstäbchen vor den Hausschreinen, menschliche und tierische Exkremente, seltsame Düfte und Aromen, die sie nicht näher bestimmen konnte und die ihr jedes Mal, wenn sie sie bewusst wahrnahm, unmissverständlich klar machten, dass sie in einer anderen Welt angekommen war.


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