Tod und Schatten. Ole R. Börgdahl
stellte sich zu seinen Leuten in eine Ecke des Kellers. Kerstin Sander nahm seinen Platz unter der Treppe ein. Gegen jede Regel der Spurensicherung bewegte sie den Körper, drehte die Frau auf den Rücken, beugte sich über sie. Marek war vorgetreten und beobachtete ihr Handeln. Er nahm den Halogenscheinwerfer von der Werkbank und folgte ihren Bewegungen. Sie nickte ihm kurz zu. Er hielt den Scheinwerfer noch ein Stück tiefer. Kerstin Sander verschaffte sich einen Eindruck von den Verletzungen der Frau. Sie nahm als erstes den Hals Puls, untersuchte dann mit routinierten Handgriffen den Kopf, die Schultern, den Rumpf und schließlich die Beine. Sie tastete die Knochen ab, um erste Hinweise auf Frakturen zu erhalten.
»Haben wir eine Decke?«, fragte Kerstin Sander. »Wir müssen sie auf eine Decke legen. Der Boden hier ist verdammt kalt. Und wir brauchen natürlich einen Krankentransport.«
Ulrich Roose stieß einen seiner Leute an. Der Mann ging zur Treppe, stieg mit vorsichtigen Schritten über die Szene hinweg nach oben. Kerstin Sander öffnete ihren Koffer. Sie hatte nicht viel für die Lebenden dabei, fand aber genug Verbandsmaterial für eine erste Wundversorgung. Während ihres Handelns sah sie einmal kurz in die fragenden Gesichter von Ulrich Roose und Marek.
»Offensichtlich eine Schussverletzung an der Hüfte, auf der rechten Seite. Nicht unerheblicher Blutverlust.« Sie deutete in die hinterste Ecke unter der Kellertreppe. »Hier ist ziemlich viel Blut, sie hat aber noch einen recht guten Puls.« Kerstin Sander machte eine Pause, als sie eine Kompresse auf die Wunde an der entblößten Hüfte der Frau drückte. »Dann hat sie noch Abschürfungen an den Händen und Prellungen am Rumpf und vermutlich auch an den Beinen. Knochenbrüche konnte ich keine feststellen. Wo bleibt die Decke?«
Aus der Küche über ihnen waren eilige Schritte zu hören. Ulrich Roose trat unten an die Treppe und blickte hinauf. Er hob die Hände und fing nacheinander zwei Wolldecken auf.
»Krankenwagen ist unterwegs«, kam es von oben. »Ich warte draußen auf der Straße.«
»In Ordnung«, sagte Ulrich Roose und reichte Kerstin Sander die Decken.
»Danke, hier muss mal jemand mit anpacken.«
Marek hielt noch immer den Scheinwerfer. Ulrich Roose gab dem anderen Techniker Zeichen. Kerstin Sander rutschte auf Knien zur Seite, nachdem sie die Decken ausgebreitet hatte. Ulrich Roose trat hinter die Frau, griff ihr vorsichtig unter die Arme. Auf der anderen Seite wurden die Beine der Frau angehoben.
»Wenn sie auf der Decke liegt, müsst ihr die Zipfel eindrehen und ihren Körper hochnehmen«, dirigierte Kerstin Sander die beiden Männer vom Tatorterkennungsdienst. »Wir sollten sie schon einmal nach oben bringen.«
Ulrich Roose nickte.
*
Eine Viertel Stunde später war wieder Ruhe eingekehrt. Nach der Erstversorgung wurde die verletzte Frau aus dem Keller in den mittlerweile bereitstehenden Krankenwagen geladen, der dann mit Blaulicht, aber ohne Sirene abgefahren war. Zeitgleich war auch der Leichenwagen eingetroffen. Dr. Kerstin Sander hatte ihre Arbeit beendet und sich bei Ulrich Roose und seinen Leuten verabschiedet. Marek hatte sich bereits zurückgezogen. Er saß alleine in der kleinen Küche. Er hatte sich auf einen der Küchenstühle gesetzt und hielt einen Personalausweis in Händen. Ulrich Roose hatte unter der Kellertreppe eine Damenhandtasche gefunden, darin nur eine Geldbörse, ein Paket Papiertaschentücher und ein blauer Baumwollschal. Der Ausweis stecke in der Geldbörse zusammen mit siebzig Euro in Scheinen und einem Euro siebenunddreißig in Münzen. Sonst befand sich nichts in der Geldbörse, kein Führerschein, keine EC- oder Kreditkarte, nichts.
Die Frau hieß Claudia Witte. Marek wendete den Personalausweis. Es war noch das alte, etwas größere Format. Ulrich Roose hatte die Straßenanschrift bereits überprüft. Claudia Witte kam aus dem Bezirk Pankow, wohnte dort im Stadtteil Prenzlauer Berg. Auf dem kleinen Zettel, den Ulrich Roose aufgeschrieben hatte, stand auch eine Telefonnummer. Marek zog sein Handy hervor, wählte aber zunächst eine Nummer aus seinem Telefonverzeichnis. Bevor er die Telefontaste drückte, schaute er auf seine Armbanduhr.
Es war kurz nach halb elf, Samstagabend. Vielleicht war Kriminaloberkommissar Thomas Leidtner auch nicht zu erreichen, vielleicht hatte er sein Telefon ausgeschaltet. Gut, sie hatten Bereitschaft, aber es war Samstagabend. Was machte Leidtner am Samstagabend. Marek wusste es nicht. Über Privates hatten sie seit Wochen nicht gesprochen und in der Zeit vor Kowalskis Weggang kannten sie sich noch nicht so gut. Marek war der Neue. Er hatte zusammen mit einem anderen Neuen bei Kriminalhauptkommissar Jürgen Kowalski angefangen, aber der andere Neue hatte nach wenigen Tagen die Operative Einheit innerhalb des LKA 1 gewechselt, Personalmangel. Und dann kam die Sache mit Kowalski. Irgendjemand im Präsidium hatte gleich gemeint, dass Kowalski so schnell nicht wiederkommen würde.
In den ersten Wochen hatten sie auch ohne Führung genug zu tun. Die Abarbeitung der alten Fälle, die Unterstützung anderer Teams bei ein paar größeren Operationen. Mit der Zeit war aber dann doch zu spüren, welchen Stellenwert ihre Operative Einheit ohne Kowalski hatte. In diesem Zustand verbrachten sie jetzt bereits fast drei Monate. Und in den letzten vier Wochen hatten Thomas Leidtner und er überhaupt keinen richtigen Fall mehr zugeteilt bekommen. Sie halfen jetzt nur noch aus, übernahmen größtenteils Sekundärermittlungen, befragten Zeugen, werteten die Ergebnisse des Tatorterkennungsdienstes aus oder schrieben Berichte. Diese Sache hier würden sie wahrscheinlich auch abgeben, an ein erfahreneres Team abgeben, obwohl Thomas Leidtner ein erfahrener Ermittler war.
Leidtner war ein richtiger Polizist, der nach seiner Ausbildung erst bei der Bereitschaftspolizei angefangen hatte und sich jeden Karriereschritt hart erarbeiten musste. So kam es Marek zumindest vor, wenn er den Gesprächen der älteren Kollegen zuhörte, den Kommissaren, die eine ähnliche Laufbahn hinter sich hatten. Ein studierter Polizist war da etwas, das nicht richtig passte, nicht zur Polizei passte. Aber sie wurden immer mehr und besetzten nach und nach die Stellen, die die richtigen Polizisten erst nach zehn oder fünfzehn Dienstjahren einnehmen konnten, wenn dann nicht schon jemand dort saß, jemand wie Marek. Gehobener Dienst bereits am ersten Arbeitstag.
Marek drückte die Telefontaste. Das Telefon klingelte. Wenigstens war der Anrufbeantworter nicht eingeschaltet. Marek zählte mit, dreimal, viermal. Bei jedem weiteren unbeantworteten Klingeln wollte er auflegen, tat es aber nicht. Sieben. Es klickte, ein dumpfes Hallo, ein Schaben, dann war das Hallo klarer zu hören. Thomas Leidtner nannte seinen Namen, hatte offenbar keine Ahnung, wer ihn anrief.
Marek musste sich räuspern. Er schluckte noch einmal. »Hallo Thomas, ich bin’s, Marek.«
Sie duzten sich wenigstens noch, musste Marek denken, als er die Worte ausgesprochen hatte.
Es dauerte ewige zwei Sekunden. »Hallo!«, antwortete Thomas tonlos, sonst nichts.
Es vergingen wieder Sekunden, bis Marek erneut ansetzte. »Entschuldigung für die späte Störung. Was machst du gerade?«
»Ich habe ein Bier stehen lassen.«
»Ach, du bist unterwegs und nicht zu Hause.«
»So sieht es aus.«
»Das ist natürlich blöd.«
»Ist bloß ein Alkoholfreies.« Thomas machte eine kurze Pause. »Haben wir einen Einsatz?«
»Ja, das heißt ...«
»Soll ich kommen?«, unterbrach Thomas Marek. »Wo bist du, worum geht es?« Leidtners letzte Worte wirkten jetzt etwas dynamischer.
»Nein, ist schon fast vorbei hier.«
»Was für ein Einsatz, Mord? Wer ermittelt?«
»Ja, Mord. Bei einem Streifeneinsatz wurde eine männliche Leiche mit Schussverletzungen aufgefunden. Tatort ist ein Reisebüro in Friedenau, aber das ist noch nicht alles. Ich habe auch noch eine lebende Person vorgefunden.«
»Du?«, fragte Thomas.
Marek ärgerte sich über seine Formulierung, gab dann aber eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse des Abends. Thomas hörte zu, bis Marek geendet hatte.
»Und bis Montag führen wir die Ermittlungen?«, fragte er schließlich.