Menschenseelen. S. N. Stone
Stimme zitterte, als sie antwortete.
„Wenn ich nun Schuld an seinem Zustand bin?“
„Dann hättest du es erst recht machen müssen“, schimpfte er und besah sich den Mann. „Aber ich glaube, dass du das wohl kaum warst.“
Er hatte das Shirt, oder besser das, was davon noch übrig war, hochgeschoben und besah sich den Oberkörper.
„Ich werde Matti holen, der soll sich das ansehen.“
Lukas erhob sich und ging, dabei drehte er sich noch einmal um und runzelte die Stirn.
Während sie auf das älteste Mitglied ihres Teams wartete, Dr. Matthias Secher, Pathophysiologe, musterte Jenna den Mann: Etwa 1,85 m groß, schlank, gut durchtrainiert, perfekter Körperbau, perfekte Proportionen. Ihr Blick wanderte hoch zu seinem Gesicht. Er hatte Blutergüsse und eine Platzwunde und trotzdem: symmetrisch, feine Züge, perfekte Lippen, gerade Nase, die Augen geschlossen, aber alles im perfekten Abstand zueinander. Er hatte dunkle Haare, die Seiten ganz kurz, das Deckhaar etwas länger und feucht von Blut. Der Mann entsprach dem Idealbild. Lediglich sein schwer gehender Atem, das Blut und die Wunden und Blutergüsse zeugten davon, dass hier etwas nicht perfekt war.
Jenna schüttelte sich. Die Analyse kam ihr in dieser Situation selbst unangebracht vor, berufsgeschädigt, eindeutig!
Sven Schulte, Lukas Bruder und ihr Computergenie, kam herein und stellte sich mit verschränkten Armen neben sie und betrachtete den Mann.
„Na dem hast du ja ganz schön zugesetzt“, bemerkte er.
Bevor sie ihm sagen konnte, dass dies sicher nicht der Zeitpunkt für irgendwelche Sprüche war, kam Lukas in Begleitung von Matti zurück. Ohne sich weiter um die anderen zu kümmern, hockt der sich neben den Verletzten und holte eine Schere aus der Tasche seines Kittels heraus. Er schnitt die Überreste des Shirts auf und zog sie beiseite. Dann verharrte er einen Augenblick.
„Jenna“, er griff hoch an ihren Ärmel und zog sie zu sich herunter, „sieh dir das an.“
Er deutete auf den Oberkörper. Jenna folgte mit ihrem Blick seiner Geste. Ach du liebe Güte! Er hatte tiefe Schnittwunden, violette Blutergüsse überall und dann zeigte Matti auf die linke Schulter des Mannes. Jen spürte Svens Atem in ihrem Nacken, auch er hatte sich heruntergebeugt.
„Was hat man mit ihm gemacht?“, fragte er schockiert.
„Ich denke da wollte ihm jemand richtig wehtun, sieht aus wie eine Brandverletzung“, antwortete Matti.
Obwohl Jenna aufgrund ihres Jobs schon ziemlich viel gesehen hatte, verspürte sie bei dem Anblick ein unangenehmes Ziehen in ihrem Unterleib.
„Könnte es ein Unfall gewesen sein?“, fragte sie.
Matti zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, aber er muss unbedingt in ein Krankenhaus, hier krepiert er uns. Die Wunden müssen versorgt werden.“
Anstatt einen Notarztwagen zu rufen, hatten sie den Mann in das Auto der Brüder verfrachtet und waren zur Notaufnahme gefahren. Dort hatte man sich umgehend dem Schwerverletzten angenommen und die Polizei benachrichtigt. Lukas, Sven und sie selbst waren befragt worden.
Nun saß sie ganz alleine hier im Wartebereich. Die Polizei war wieder weg und sie hatte die Brüder nach Hause geschickt und auch sie hätte jetzt besser in ihrer Wohnung sein sollen. Aber irgendwie war Jen nicht in der Lage. Sie wollte in der Nähe des Mannes bleiben.
Eine weitere Stunde verging, in der nichts geschah. Die Müdigkeit, die sie aufgrund der ganzen Aufregung vergessen hatte, kehrte zurück. Jenna saß auf einer dieser Plastikbänke und ihre Glieder waren so schwer. Nun gut, sie würde sich ein Taxi nehmen und endlich heimfahren. Morgen würde sie zurückkommen und hoffen, dass man ihr Auskunft gab.
„Mein Gott wo warst du denn, warum hast du dich nicht gemeldet?“, wurde sie von ihrer Schwester begrüßt, die im Nachthemd und mit zerzausten Haaren die Tür aufgerissen hatte, noch bevor Jenna den Schlüssel hatte abziehen können.
„Hast du die ganze Zeit gearbeitet? Warum hast du nicht einmal angerufen? Ich habe mir Sorgen gemacht!“, schimpfte sie weiter, als Jen sich Jacke und Schuhe auszog.
„Ich muss ins Bett“, antwortete sie nur und ließ Laura mit offenem Mund stehen.
2. Kapitel
Jenna stand im Badezimmer und starrte ihr Spiegelbild an. Sie hatte schlecht geschlafen und genauso sah sie auch aus. In ihren Träumen hatte sie der Schmerz in den Augen des Mannes verfolgt. Jen streckte sich selbst die Zunge heraus und griff zur Zahnbürste und Zahnpasta. Sie drückte viel zu viel aus der Tube und die Paste verteilte sich im Handwaschbecken. Man! Sie musste ihre Mutter anrufen! Jenna putzte sich die Zähne und starrte dabei weiter in den Spiegel. Wie es ihm wohl ging? Sie spuckte den Zahnpastaschaum ins Becken und spülte sich den Mund aus. Sie würde nachher ins Krankenhaus fahren.
In der Küche wartete Laura bereits am gedeckten Frühstückstisch.
„Na, ausgeschlafen?“, fragte sie und legte die Tageszeitung zur Seite.
Jenna schüttelte den Kopf, setzte sich und goss sich einen Kaffee ein.
„Ich habe gestern einen Mann angefahren“, sagte sie beiläufig, während sie sich ein Brötchen schmierte.
Als sie abbiss, schaute sie auf und sah, wie Laura sie mit großen Augen ansah
„Du hast einen Mann angefahren? Und das erzählst du mir mal ebenso nebenbei? Gehts dir gut? Ist dir was passiert? Ist ihm was passiert?“
Jen kaute, schluckte runter und trank von ihrem Kaffee.
„Jenna!“, fuhr Laura sie an, „würdest du mir jetzt bitte verdammt noch mal erzählen, was geschehen ist?“
Laura, die große Schwester und Aufpasserin war beinahe hysterisch.
„Mir geht es gut und dem Mann habe ich auch nichts getan, es war beim Ausparken, aber ...“ und Jen erzählte, was geschehen war.
"Oh mein Gott!“ Laura betonte jedes Wort. „Und was nun?“
„Und nun hat die Polizei meine Aussage und meine Personalien und wird sich bei mir melden, wenn noch irgendetwas ist“, antwortete sie. „Ich werde nachher ins Krankenhaus fahren.“
„Soll ich dich begleiten?“
Jenna schüttelte den Kopf, nein, sie wollte dort alleine hin.
Als Jenna die Klinik betrat, musste sie erst einmal überlegen, wo der Mann untergebracht worden war. Ehrlich gesagt hatte ihr der Schock so tief in den Knochen gesteckt, dass sie sich nicht mehr richtig erinnern konnte. Sie war mit dem Fahrstuhl gefahren, zwei Etagen. Also los, in den zweiten Stock. Dort angekommen lief sie einen kurzen Gang entlang und entdeckte den Wartebereich mit den Plastikbänken. Sie sah, ein paar Schritte entfernt, einen Tresen hinter dem eine ältere Krankenschwester über Papiere gebeugt, saß. Jen ging dorthin.
„Entschuldigen Sie bitte“, sprach sie die Schwester an die sofort ihren Kopf hob und sie anlächelte. „Gestern Abend wurde ein Mann hier hergebracht. Er war schwer verletzt und die Polizei wurde hinzugerufen.“
Die Frau nickte. „Darüber weiß ich Bescheid“, antwortete sie freundlich.
„Ich wollte mich erkundigen, wie es ihm geht.“
Die Krankenschwester neigte den Kopf ein wenig. „Sind Sie denn eine Angehörige?“
„Nein, ich habe ihn aber gefunden und her gebracht“, antwortete sie und ärgerte sich im selben Moment über ihre unüberlegte Antwort, nun würde sie sicher nichts erfahren.
„Ich mache mir natürlich Gedanken und möchte gerne wissen, wie es ihm geht“, versuchte sie die Situation zu retten.
Die Frau erhob sich von ihrem Stuhl und kam um den Tresen herum. Sie nahm Jen am Arm und