Weltenlied. Manuel Charisius

Weltenlied - Manuel Charisius


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wollte Léun wissen. Es war nicht das erste Mal, dass sein Großvater Anstalten machte, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Alles, was er bislang wusste, war, dass sein Vater als Jugendlicher fast gestorben wäre.

      »Bei Fuertýna … Göttin der Saat und der Ernte«, sagte Lóhan stockend und mit gesenkter Stimme. »Du bist ihm so ähnlich, nicht äußerlich zwar, aber Láhen … fast scheint es mir, als ob ich zum zweiten Mal …« Er unterbrach sich erneut. Auf einmal fasste er Léun über den Tisch hinweg bei der Schulter und musterte ihn eindringlich.

      »Versprich mir eins«, fuhr er mit bebender Stimme fort, »wenn du eines Tages hier in Grüntal eine Hütte hast, und eine Frau, und vielleicht einen Sohn …«

      »Ja? Was dann?«

      »Lass sie nicht im Stich, hörst du? Lass deine Familie nicht allein zurück wie Láhen, dieser Nichtsnutz. Versprichst du mir das?«

      Fast hätte Léun genickt und es ihm versprochen.

      Láhen, dieser Nichtsnutz!

      »Er war kein Nichtsnutz«, brauste er auf und schüttelte Lóhans Hand von seiner Schulter. Dieser starrte ihn verdutzt an.

      »Aber ich meinte doch nur …«

      »Mein Vater ist kein Nichtsnutz!«, wiederholte Léun, warf beim Aufspringen seinen Stuhl um und polterte aus der Hütte. Die Tür warf er krachend hinter sich ins Schloss.

      Er fühlte sich erst besser, als er, das Dorf Grünhag im Rücken, die halbe Wegstrecke zum Mittleren See hinter sich gebracht hatte. Um diese Tageszeit pflegten bei Sonnenschein viele Leute dort einzutrudeln. Ihm war danach, die Gesichter seiner Freunde zu sehen, ihre Stimmen zu hören und Neuigkeiten auszutauschen. Stán war meistens da und auch Néna und Mían, die Zwillinge aus Süderhag. Am meisten hoffte Léun jedoch, seinen besten Freund Arrec aus Mittelhag zu treffen. Der wusste immer allerlei verrücktes Zeug zu berichten und war nie abgeneigt, irgendwelchen Unsinn anzustellen.

      Zu seiner Enttäuschung war Arrec noch nicht gekommen, und auch von den anderen konnte Léun niemanden am See entdecken. Nur ein paar kleine Kinder planschten kreischend vor Vergnügen im flachen Uferwasser, während ihre Mütter etwas weiter draußen Kleider wuschen.

      Vermutlich war er heute einfach zu früh dran. Er beschloss, um den See herumzulaufen. So würde er nicht nur die Zeit totschlagen, sondern auch an Mittelhag vorbeikommen, dem Dorf am Nordufer. Vielleicht konnte er Arrec von zu Hause abholen – vorausgesetzt, dieser verbrachte nicht den ganzen Tag über mit seinem Vater Erric in den Grünen Auen. Erric trieb mit den Reisbauern von Bergau regen Handel und ließ Arrec das Getreide säckeweise zurück nach Grüntal schleppen, um die zwei Goldmünzen Leihgebühr für einen Ochsenkarren zu sparen. Léun wusste, dass sein Freund diese Arbeit hasste wie nichts auf der Welt.

      Nach einer Weile drang das alarmierte Gebell von Grantis Hunden an seine Ohren. Granti, eine weißhaarige Alte mit den Augen und Ohren eines Luchses und der Zunge einer Schlange, hauste allein in einer umzäunten Hütte am Westufer des Sees. An nichts und niemandem pflegte sie ein gutes Haar zu lassen. Die Menschen seien schlecht, das Wetter sowieso, ja selbst die prächtigen Blüten in ihrem Garten waren ihr in einem Jahr zu mickrig, im nächsten zogen sie lästige Bienen und angeblich auch Blumendiebe an.

      Wie das gehen sollte, war Léun schleierhaft. Zwei riesenhafte schwarzbraune Köter bewachten Grantis Garten. Wenn jemand vorbeikam, benahmen sie sich schlimmer als die rüpelhafte Garde vor dem Palast von Sonnenau im Nachbartal. Léun mochte keine Hunde, und bei denen von Granti beruhte das wohl auf Gegenseitigkeit. Wann immer er an ihrem Grundstück vorbeikam, sprangen sie an der Innenseite des Zauns hoch, überschlugen sich in drohendem Gekläff und schienen sich vor Raserei fast gegenseitig zerfleischen zu wollen.

      Auch diesmal wurde er von den beiden kalbsgroßen Ungeheuern verbellt, dass ihnen der Schaum nur so von den Lefzen sprühte. Natürlich hatte er sich vergewissert, dass das Gatter geschlossen war, bevor er sich Grantis Reich überhaupt zu nähern wagte. Man sagte zwar, dass Hunde, die bellten, nicht bissen, aber Léun war nicht erpicht darauf zu überprüfen, ob die beiden Exemplare der Alten sich auch daran hielten.

      Als er an ihrem Zaun fast vorbeigegangen war, riskierte er einen Blick in Grantis Garten. Eine rostige Schere in den Klauen, stand die Alte vor ihren Stockrosen und kappte die schönsten Blütenkelche, bestimmt um sie drinnen in eine Schale mit Wasser zu legen. Sie hatte innegehalten, um auf die Hunde einzureden, die sich nicht im Mindesten darum scherten. Als sie Léuns Blick bemerkte, keifte Granti ihn fast noch lauter an.

      »Mach, dass du weiterkommst, du Strolch! Siehst doch, dass Lóbo und Çerbero ganz verwirrt sind. Aus, ihr Burschen! Platz! Gleich kehrt hier wieder Ruhe ein.«

      Léun zog ihr eine lange Nase und beeilte sich, Grantis Revier hinter sich zu lassen.

      Doch sie hatte die Grimasse gesehen.

      »Dir werd ich Beine machen«, kreischte sie über das Knurren und Bellen hinweg. »Sich über eine arme alte Frau wie mich lustig zu machen. Wart nur, du Racker!«

      Léun drehte sich um. Zu seinem Entsetzen löste die Alte den Riegel ihres Gatters. Er wusste, was passieren würde, und verlor keine Sekunde.

      »Fass, ihr Burschen! Aber nur spielen, ja?«

      Wie rastlose Geister der Unterwelt fuhren die Hunde durch das Gatter in die Freiheit und jagten mit ohrenbetäubendem Gekläff hinter ihrer Beute her.

      Léun rannte mit seinen Freunden oft genug um die Wette über die Wiesen Grüntals. Er war ein schneller Läufer, aber eben nur ein Mensch. Außerdem war der Boden auf tückische Weise uneben. Die Biester hinter ihm ließen sich weder durch Senken noch durch herumliegendes Geäst ins Straucheln bringen; er dagegen stolperte alle paar Schritte. Die Erinnerung an seinen ständigen Alptraum lähmte ihn zusätzlich.

      Es gab kein Entkommen.

      Mit auf und ab nickenden Köpfen und heraushängenden Zungen holten die Hunde ihn scheinbar mühelos ein. Sie sprangen an ihm hoch und versuchten, nach seinen Waden und Handgelenken zu schnappen. Er wich aus, rannte weiter, wich wieder aus.

      Nur nicht stehenbleiben!

      Kläffend und schwanzwedelnd hetzten die beiden Köter ihn fast die ganzen zwei Meilen bis nach Waldhag. Als die Hütten des Dorfes vor ihm auftauchten, ließen sie endlich von Léun ab. Winselnd hechteten sie in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.

      Erschöpft beugte er sich vornüber, stützte die Hände auf die Knie und atmete so lange durch, bis das Brennen in seiner Kehle endlich nachließ. Dann begutachtete er seine Unterarme und Waden. Überall hatten ihm die schnappenden Fänge der Hunde Kratzer und Abschürfungen beigebracht.

      »Mistviecher«, knurrte er wütend. »Das habt ihr zum ersten und zum letzten Mal mit mir gemacht.«

      Die Verletzungen waren nicht schlimm, er spürte kaum den Schmerz. Umso heftiger brannte das Gefühl der Demütigung in ihm. Er räusperte sich lautstark und spuckte angewidert aus. Könnte er sich doch nur den Geifer der Hunde von der geschundenen Haut waschen!

      Zum Mittleren See zurückzugehen kam nicht in Frage. Womöglich würde die alte Granti ihre schwarzen Biester noch einmal auf ihn loslassen. Außerdem hatte er das westlichste Dorf fast erreicht – und damit den Grünwald, der die Grenze des Tals bildete.

      Von Waldhag aus führten zwei Pfade hinauf in die Berge. Der nördliche endete bei der Hütte von Héranon, dem Waldhüter. Der südliche querte nach einem steilen Aufstieg einen Rundweg, der um das ganze Tal herumführte und an einigen Stellen atemberaubende Ausblicke bot. Wenn man nicht abbog, sondern dem Pfad weiter nach Westen in die Höhe folgte, erreichte man eine Quelle. Die Bewohner Grüntals nannten sie die Löwenquelle.

      Der Wasserlauf, der an dieser abgelegenen Stelle an die Oberfläche trat, hatte im Laufe der Jahrzehnte den weichen Waldboden ausgespült. Ein kleiner Teich war entstanden. An Sommerabenden kamen manchmal frisch verliebte Pärchen hierher. Oder einsame, unglückliche Liebende. Tagsüber ging niemand zur Löwenquelle hinauf, obwohl das Wasser um einiges klarer und frischer war als


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