Und keiner wird dich kennen. Катя Брандис
wie ein Heer Ameisen.
Irgendwie hat sich Robert wieder in unser Leben gedrängt. Beim nächsten Streit rastet er aus, wirft eine volle Konservendose – nach mir! Ein heftiger Schlag, plötzlich liege ich am Boden, Blut läuft mir in die Augen. Krankenhaus. Mama erstattet Anzeige - und sagt Robert, dass er uns endlich in Ruhe lassen soll, nie wieder will sie irgendetwas mit ihm zu tun haben. Robert ist wütend, so furchtbar wütend. In den nächsten Tagen klingeln alle unsere Telefone ständig. Alle paar Minuten ruft er an, nachts einmal die Stunde, schläft der Typ gar nicht, verdammt? Mama erzählt, dass er ihr jeden Tag Dutzende Mails schreibt. Sie antwortet nicht, aber das scheint ihn nicht zu stören. Wir stöpseln das Telefon aus, Mama beantragt eine neue Nummer, wir ändern unsere Mail-Konten. Aber das macht ihm nichts aus, er ruft sie einfach auf der Arbeit an und schreibt ihr Briefe, die Mama am liebsten verbrennen würde, jedoch als Beweismittel aufheben muss. Ich schaffe es kaum noch einzuschlafen, weil er vielleicht schon wieder vor der Tür steht... und wenn ich schließlich schlafe, dann nur mit fiesen Träumen...
Maja fragt sich, ob die Albträume heute noch wiederkommen werden – vielleicht ist es die Angst vor ihnen, die sie wach hält. Klingt logisch. Aufgedreht und todmüde zugleich wandert Maja durch die Wohnung, redet sich ein, dass sie nichts Bestimmtes sucht. Im Bad ist der Schrank mit Lilas Medikamenten, starkes Zeug hat sie da drin. Zu stark, stärker als sie manchmal. Besser nicht mehr dran denken.
Irgendwie schafft Maja es, am Bad vorbeizugehen. Sie kommt am Zimmer vorbei, in dem Elias schläft, sie kann seinen ruhigen Atem hören. Lila hat wohl geschafft, ihm vorzumachen, dass alles in Ordnung ist. Gott sei Dank. Früher war das anders, da ging das nicht mehr ...
Wir spielen viel drinnen mit Elias, weil wir alle Angst haben, draußen wieder Robert Barsch zu begegnen. Meistens bleiben die Rollläden unten. Elias stellt viele Fragen, will wissen, warum manche Menschen so böse sind und was er eigentlich von uns will. „Er will über uns herrschen, glaube ich – wie so eine Art König“, sagt Lila. „Ein böser König“, sagt Elias und nickt, das versteht er, so was gibt es auch in seinen Märchen. Lila und ich blicken uns an. Ist es das? Oder ist es noch viel schlimmer? Vielleicht will er uns jetzt nur noch bestrafen. Sich rächen dafür, dass Mama ihn nicht mehr will. Uns vernichten.
Kurz darauf schafft es unsere getigerte Katze Jumpy, rauszuschlüpfen auf die Straße. Am nächsten Tag liegt ihre blutige Pfote vor unserer Tür. Es ist eine Botschaft, das ist klar. Wir heulen alle, Elias ist völlig hysterisch. Mama ruft sofort die Polizei an, will wieder einmal Anzeige erstatten, aber sie erfährt, dass es nur eine Sachbeschädigung ist, eine Katze zu töten. Nur eine Sachbeschädigung!
Mamas Anzeigen und Einstweilige Verfügungen beeindrucken Robert Barsch sowieso nicht, er ignoriert einfach, dass er sich uns nicht mehr nähern darf. Die Polizei gibt zur Auskunft, dass sie uns nicht helfen könne.
Bis eines Tages ...
Nein. NEIN! Verdammt, nein! Bloß nicht an all das denken. Maja versucht es mit einer der Übungen, die der Psychologe ihr erklärt hat, und tut ihr bestes, um das heitere Bild in sich heraufzubeschwören. Ich liege auf einer Sommerwiese, über mir der blaue Himmel. Wolken ziehen an mir vorbei. Ich stelle mir vor, dass ich die düsteren Gedanken auf einer dieser Wolken ablege. Sofort fühle ich mich leichter, die Last auf mir ist weg. Die Wolke wird vom Wind über den Himmel geschoben und nimmt die Gedanken mit ...
Es funktioniert, Maja fühlt sich ein wenig besser. Er weiß nicht, wo wir jetzt leben, sagt sie sich immer wieder. Er ist weg, wir sind hier in Sicherheit.
Aber was ist, wenn er aus dem Knast kommt und dann wieder anfängt, sie zu verfolgen? Würden sie das noch mal durchstehen? Müssen sie dann wieder so leben wie damals, im Haus verschanzt, voller Panik, hilflos, ausgeliefert ohne echten Schutz?
Schluss jetzt! Er wird nicht herausfinden, wo wir sind. Klar?
Klar, antwortet Maja sich selbst gehorsam. Sie tappt doch noch ins Bad, aber nur, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Zwei Uhr nachts. Das wird mal wieder toll werden in der Schule, ein endloser Kampf gegen nach unten sackende Augenlider. Wenigstens schreiben sie morgen keine Klassenarbeit, das hätte ihr gerade noch gefehlt.
Maja kriecht unter ihre Bettdecke und schließt die Augen. Die Sommerwiese ist weg und nicht wiederzufinden. Und gerade jetzt bräuchte Maja sie so dringend, schon spürt sie, wie die Vergangenheit über sie herfällt ....
Ich komme von der Schule nach Hause – und schon von Weitem sehe ich das Blaulicht. Je näher ich komme, desto schneller gehe ich, eine furchtbare Ahnung steigt in mir auf. Ja, es ist unser Haus, vor dem Kranken- und Polizeiwagen stehen! Ich frage, was los ist, aber keiner will es mir sagen, ich rede immer lauter, schreie herum ... und dann tragen sie Mama heraus, blutüberströmt, eine Sauerstoffmaske über dem Gesicht ...
Jetzt erst kommen die Tränen, sie kitzeln auf ihrem Gesicht, sickern ins Kissen. Und seltsam ... das Weinen hilft, endlich ist Majas Kopf leer.
Endlich kann der Schlaf sie zu sich holen.
Der nächste Morgen ist eine Zumutung. Maja fühlt sich, als hätte sie gestern alleine eine Flasche Tequila geleert, die Kopfschmerzen sprengen ihr fast den Schädel. Schweigend beißt sie in ihr Aufbackbrötchen. Lila versucht, fröhlich dreinzublicken. Doch unter ihren Augen zeichnen sich tiefe Schatten ab, ihre Haut sieht aus wie dünnes, zerknittertes Papier und selbst ihre langen, dunklen Locken wirken heute nicht so prachtvoll wie sonst. Sie hat ihre Narben noch nicht überschminkt, man sieht sie an der Schläfe und neben dem Kinn. Aber sie sind verblasst in den letzten Jahren. Vielleicht verschwinden sie irgendwann einmal ganz. Wie die Erinnerungen hoffentlich auch.
„Darf ich noch ein Brötchen süß?“, fragt Elias, sein hellblondes Haar steht noch ungekämmt zu Berge. Er mustert hoffnungsvoll das Glas mit der Schokocreme. Sein grün-orangener Kuscheldrache sitzt neben ihm auf dem Frühstückstisch und scheint die Schnauze in Richtung Schokoglas zu recken.
„Na gut, ausnahmsweise“, antwortet Lila. „Und lass uns mal besprechen, wen du zu deinem Geburtstag übernächste Woche einladen willst.“
Elias blickt auf seinen Teller. „Weiß nich. Nur Lorenzo.“
Maja muss lächeln. Das ist süß, aber eigentlich hatte ihnen eher eine Kinderparty vorgeschwebt. „Wen magst du denn in deiner Klasse?“, versucht sie nachzuhelfen.
„Eigentlich niemand“, sagt Elias. „Die sind alle doof.“
„Ach, wir müssen auch gar keine Party machen“, sagt Lila rasch. „Wie wär´s, wenn wir drei und Lorenzo zusammen Pommes essen gehen?“
Zum Glück nickt Elias und versucht sogar ein Lächeln. Maja lächelt zurück. Was für ein Mist, dass er in seiner Klasse immer noch keinen Anschluss gefunden hat. Wahrscheinlich ist er den anderen zu schüchtern, oder zu uncool. Es tut weh, sich vorzustellen, dass ein lieber Kerl wie er jeden Tag allein auf dem Pausenhof steht und sein Brot in sich hineinmümmelt. Lorenzo hat erzählt, dass er früher auch gemobbt wurde, und unterhält sich immer total nett mit Elias, wenn er Maja besucht. Kein Wunder, dass Elias ihn mag.
Irgendwie schleppt sich Maja durch den Schultag. Lorenzo ist ein Jahr älter als sie und eine Stufe über ihr, sie sieht ihn nur in den Pausen und in der Mensa. Aber allein sind sie keinen Moment lang, und Maja freut sich schon auf den Abend mit ihm. Ob sie wieder miteinander schlafen werden? Will sie das? Sie ist noch nicht ganz sicher, die Stimmung muss passen.
Als Maja heimkommt, wirft sie sich völlig erschöpft aufs Sofa. Mit Jana hat sie ausgemacht, dass sie gegen fünf Uhr anruft, um ihr Kostüm für die Party abzusprechen. Patrick selbst wird als „Man in Black“ gehen, so viel ist schon klar, aber Jana schwankt noch zwischen Lara Croft und irgendeiner Figur aus den Tolkien-Verfilmungen. Maja hat noch keine wirkliche Idee. Sie fühlt sich in der Stimmung für ein King-Kong-Kostüm, am liebsten würde sie jetzt sofort den einen oder anderen Wolkenkratzer umkippen.
Elias ist auch aus Schule und Hort zurück. Mit zwei Vulkan-Büchern unter dem Arm verzieht er sich in sein Zimmer, steckt dann