Hinter der Lüge. S. N. Stone
es nicht bemerkte, er sie aber auch nicht aus den Augen verlor. Die Fahrt ging nach Stockelsdorf, wo sie vor einem Einfamilienhaus parkte und dann mit einer Laptoptasche und einigen Ordnern unter dem Arm klingelte und hineingelassen wurde. Jan stellte sich mit seinem Wagen ein Stück entfernt hin und beobachtete das Haus.
Nach zwei Stunden kam sie wieder heraus, verabschiedete sich von einem Mann und stieg in ihr Auto ein. Als sie losfuhr, folgte er ihr nicht. Er wusste sie würde nach Hause fahren und um nicht unnötig ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ließ er ihr einen Vorsprung.
Anne saß auf der Terrasse, mit einem Glas Wein, und bereitete den morgigen Arbeitstag vor. Eigentlich hatte sie das Prinzip, dass sie, wenn sie Feierabend hatte, nicht mehr arbeitete, sich auch nichts mit nach Hause nahm. Das hier war eine Ausnahme. Der heutige Kunde hatte ihr einen ungeordneten Stapel Rechnungen, Quittungen und andere Papiere überreicht, das erleichterte ihr ihre Arbeit als Steuerberaterin nicht gerade. Für die Zukunft hatte sie ihm erklärt, wie er seine Unterlagen zu ordnen hatte, damit eine reibungslose und zügige Bearbeitung möglich war.
Sie schaute auf, als sie das Motorengeräusch eines Autos hörte. Ihr Nachbar kam nach Hause. Hoffentlich verbrachte er den Abend nicht so wie gestern, vor dem Haus auf seiner Veranda oder auf der Treppe. Er grüßte sie und ging hinein. Gott sei Dank!, dachte Anne, um kurz darauf wieder hinauszukommen und sich auf die Treppe zu setzen, mit einer Zigarette in der Hand. Er schaute zu ihr herüber. Wütend packte Anne ihre Sachen zusammen, dann würde sie eben drinnen weiterarbeiten, und das, wo der Abend so wunderschön war.
Als sie im Begriff war ins Haus zu gehen, kam er an die Grundstücksgrenze heran.
„Hast du Lust mit mir was zu trinken?“, rief er ihr zu.
Anne drehte sich zu ihm um.
„Warum sollte ich“, fragte sie pikiert, dabei rutschten ihr ein paar Papiere aus dem Arm und fielen zu Boden. Sie legte die anderen Sachen auf dem Gartentisch ab und bückte sich, um sie einzusammeln.
Da die beiden Grundstücke nicht durch einen Zaun, sondern nur durch die Einfahrten voneinander getrennt waren, war es für Jan ein leichtes zu ihr hinüber auf die Terrasse zu gehen. Er hockte sich neben sie und half ihr beim Aufheben.
„Was machen Sie da?“, fuhr sie ihn an.
Er ließ die Hände sinken und schaute sie an.
„Dir helfen.“
„Warum?“
„Weil ich nett bin?!“
Sie lachte auf. „Ich glaube eher, Sie sind aufdringlich!“
„Aufdringlich?“
Sie nickte. „Egal wo ich bin, Sie sind auch da, zum Beispiel vorhin in dem Eiscafé.“
Nun lachte er. „Willst du behaupten ich verfolge dich“, fragte er, sie blieb ihm eine Antwort schuldig, starrte ihn nur mit ihren himmelblauen Augen an.
Jan stand auf, sie ebenfalls, und er drückte ihr die Zettel in die Hand, die er aufgehoben hatte.
„Ich verfolge dich nicht. Ich war bereits in dem Café, als du kamst. Und ich entschuldige mich vielmals, dass ich die Dreistigkeit besessen habe, dich auf einen Drink einladen zu wollen. Ich dachte nur, dass es vielleicht nett wäre, nach einem etwas holprigen Anfang, um besser miteinander auszukommen, aber ich glaube du hast daran kein Interesse.“ Und er ging.
Frechheit! Er hatte sie einfach geduzt! Sie kannten einander doch gar nicht. Das ließ nicht auf eine gute Kinderstube schließen.
***
Anne hatte schlecht geschlafen und das hatte sich den ganzen Tag über bemerkbar gemacht. Herr Sanders hatte sie darauf angesprochen, gefragt ob alles O.K. mit ihr sei und sie sogar früher nach Hause geschickt.
Sie war freiberufliche Steuerberaterin, arbeitete aber im Büro des Endfünfzigers, der seine Kunden mit ihr teilte, weil er etwas kürzertreten wollte, und dafür einen kleinen Teil ihres Honorars erhielt. Er war ein freundlicher aber sehr resoluter Mann.
Es gab zwei Gründe, weshalb die Nacht so schlecht gewesen war, einerseits machte sie sich Sorgen wegen Alexej, andererseits hatte sie darüber nachgedacht, was ihr Nachbar gesagt hatte. Er hatte es nett gemeint und sie war halt einfach sie gewesen. Anne war anderen Menschen gegenüber sehr kritisch, ein Wunder, dass Alex sich für sie interessiert hatte und sie beide eine Beziehung miteinander geführt hatten. Er war der weltgewandte und charmante Geschäftsmann und er war nicht nur schlecht, er hatte auch gute, freundliche Seiten, die die Schlechten letztendlich jedoch nicht wettmachten.
Auf dem Weg nach Hause hielt sie am Supermarkt und kaufte eine Flasche Wein, Bier mochte sie nicht.
Als Anne an der Tür ihres Nachbarn klopfte, eine Klingel konnte sie nicht finden, hämmerte ihr Herz wie wild in der Brust. Er öffnete und war offensichtlich sehr erstaunt sie zu sehen. Anne hob ihre Hand, in der sie die Flasche hielt, und nahm all ihren Mut zusammen.
„Ich wollte, das von gestern, Ihr Angebot“, stotterte sie und wurde rot, weil sie sich über sich selber ärgerte.
Er schaute sie nur an, dann schien er zu bemerken, wie unangenehm ihr die Situation war.
„Komm rein.“
Er trat zur Seite, sodass sie vorbei konnte. Ohne ein Wort schloss er die Tür.
Schweigend standen sie einander gegenüber, Anne wusste nicht, was sie sagen sollte.
Schließlich deutete er auf die Flasche in ihrer Hand und sagte: „Willst du die trinken oder einfach nur festhalten?“
„Trinken“, antwortete sie und er ging in die Küche.
Sie beobachtete ihn, wie er zwei Kaffeebecher aus einem Schrank nahm und auf den Tresen stellte. „Ich habe nichts anderes, hoffe die sind O.K.“
Nein waren sie nicht, sie hatte einen ziemlich guten Wein gekauft und den trank man nicht aus Kaffeebechern, sondern aus angemessenen Weingläsern. Anne schluckte diese Antwort herunter, wenn er nichts anderes hatte, waren die wohl in Ordnung, sie nickte. Während er eine Schublade nach der anderen aufzog, schaute sie sich unauffällig um. Karg eingerichtet wäre noch übertrieben formuliert, er hatte nichts. Auf einem Umzugskarton stand ein Laptop und davor ein alter Gartenstuhl.
„Ich habe keinen Korkenzieher“, sagte er.
Anne drehte sich zu ihm um. Der Mann stützte sich auf den Tresen und schaute sie geknickt an. „Warte“, sagte er plötzlich und verschwand in die obere Etage.
Anne fühlte sich unbehaglich. Sie schaute sich weiter um, aber es gab nichts mehr zu sehen. Zum Glück kam er recht bald wieder zurück. In der Hand hatte er ein Schweizer Taschenmesser. Mit dem Korkenzieher öffnete er die Flasche und goss den Rotwein in die Tassen.
„Ich würde dich ja bitten Platz zu nehmen, aber wie du siehst …“ er deutete in den Raum. „Lass uns auf die Veranda gehen“, schlug er vor.
Sie setzten sich auf die Treppe, die auf die Veranda führte und Anne sah, dass er sich sehr wenig von dem Wein eingegossen hatte. Sie trank einen Schluck, er stellte die Tasse nur neben sich. Worüber sollte sie sich mit ihm unterhalten? Sie schienen Welten zu trennen.
„Werden Sie das Haus kaufen?“, fragte sie, da sie glaubte das wäre recht unverfänglich.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nur mieten. Ich weiß nicht einmal, ob ich hier bleiben werde, es lohnt sich nicht. Außerdem ist es ziemlich klein“, antwortete er und sie musste feststellen, dass seine Stimmfarbe sehr angenehm war, das war ihr bisher nicht aufgefallen.
Anne runzelte die Stirn.
„Wäre größer denn wichtig? Ich meine, ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber all zu viel Möbel und andere Sachen scheinen Sie nicht unterzubringen zu haben.“
„Nein, das habe ich wirklich nicht.“
Ein unangenehmes Schweigen entstand und Anne überlegte, ob er ihr die