RUNNING. Lillie F. Leitner

RUNNING - Lillie F. Leitner


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      Karl blickt ihn regungslos an.

      „Ja, die werden vielleicht auch noch ein paar Tagen anhalten. Bleibt eben nicht ohne Folgen, wenn einem jemand mit einer Eisenstange auf den Kopf haut. ... Lassen Sie mal sehen: Ein sattes Schädel-Hirn-Trauma. Das ist schon was! Das macht man nicht mal eben in zwei Tagen ab. Fast hätten wir Ihnen Ihre Haarpracht abrasieren müssen, haha.“

      Unwillkürlich hat Karl den Löffel zurück in den Teller sinken lassen, nun greift er automatisch in seine langen, dunklen, ordentlich gekämmten Haare.

      Der Doc schaut in seine Akte: „Nun – das EEG, Kernspin, Ihre Blutwerte, Blutdruck usw., alles bestens, auch gucken können Sie wie ein Adler, haha. Das sieht doch gut aus! Da schicken wir Sie morgen nach Hause!“

      Karl spürt, wie seine linke Augenbraue in Richtung Scheitel wandert. Wie jetzt – nach Hause. Karl schaut vom Doktor zu seiner Schwester und wieder zurück.

      „Na ja“, beeilt der weiße Engel sich nachzubessern, „sprechen wollen Sie ja mit uns nicht, und wie wir hören, haben Sie wohl auch vorher schon lange Zeit kein Wort mehr geredet, um genau zu sein ...“, er nimmt wieder seine Unterlagen zu Hilfe, „äh, um genau zu sein: Rund 15 Monate.“

      Und als die Augenbraue oben bleibt: „Ihre Schwester ...“, ein Blick hinüber zum schlammfarbenen Engel, „tja, Ihre Schwester hat gemeint, Sie sollten erst mal zu ihr kommen, eine Wohnung haben Sie ja derzeit wohl, äh, nicht ...“

      „Ja!“, springt ihm der Trachtenengel zu Hilfe: „Ja, du kommst erst mal zu uns, da hast du ein Dach über dem Kopf, und wir haben doch sowieso ein Zimmer leer stehen, da kannst du bleiben. Wenn es dir wieder gut geht, finden wir schon was für dich!“

      Karls rechte Augenbraue wandert ebenfalls dem Scheitel zu. Er schiebt das Tablett mitsamt Tisch zur Seite.

      „Ich meine ...“, fährt sie fort, „ich meine, wir sind doch eine Familie. Da muss man zusammenhalten und sich helfen. Stimmt doch!“, schließt sie fast trotzig, und ihre Haltung lässt eine Widerrede sowieso nicht zu, selbst wenn er widersprechen wollte – und könnte.

      „Tja“, unterstützt nun der Arzt den Trachtenengel, beide treten auf wie ein gut geöltes Fernseh-Duo: „Ich finde, Sie sollten das Angebot Ihrer Schwester ruhig annehmen. Zunächst mal jedenfalls. Später kann man weiter sehen.“

      Es ist nur zu deutlich. Hier möchte man ihn loswerden, wahrscheinlich wird sein Bett gebraucht, er wird zu teuer, er ist zu asozial – oder was auch immer. Auf die Straße setzen will man ihn in seinem noch halbkranken Zustand auch nicht. Da ist die Schwester eine willkommene Lösung. Ihn fragt man nicht. Er wehrt sich nicht und sagt auch nichts.

      Ganz erstaunlich, wie wehrlos Menschen werden, wenn man nichts sagt, wenn man einfach schweigt. Auf Widerspruch sind sie gefasst und haben sofort Argumente parat, bei Zustimmung gibt es ohnehin kein Problem. Aber wenn man schweigt, bringt man sie völlig aus dem Konzept.

      Das ist ihm nicht neu. Er hat jetzt bereits lange erprobt, was er mit Nichtsprechen, mit der Sprache der Augen, mit verschiedenen Gesichtsausdrücken bewirken kann. Es ist fast überall gleich: Je deutlicher er schweigt, desto mehr quatschen die anderen. Es ist, als meinten sie, für ihn mitreden zu müssen. Freiwillig und ganz ungebeten übernehmen sie seinen Redeanteil. Manchmal sogar seine Argumentation, oder besser gesagt, das, was sie denken, dass er denkt. Grandios.

      Die meisten Angelegenheiten erledigten sich ohne sein Zutun. Die anderen fochten alles mit sich selber aus, fanden Argumente und Gegenargumente; am Ende drehten sie das Ding so, wie sie es haben wollten.

      Das kennt Karl schon.

      „... und letztlich“, bringt der Arzt seine Rede zum Abschluss, „können Sie froh sein, eine solche Schwester zu haben! Also: Alles Gute, unseren Abschlussbericht schicken wir dann Ihrem Hausarzt zu – oder, äh ...?“, wendet er sich hilfesuchend an die andere Hälfte seiner Mannschaft.

      „Ja, die Adresse reiche ich noch rein“, vollendet seine Schwester beflissen.

      „Ja, also noch mal: Alles Gute! Und sollten Beschwerden auftreten, Erbrechen zum Beispiel, oder falls die Kopfschmerzen nicht aufhören: Schön den Arzt aufsuchen!“

      Der weiße Engel verabschiedet sich mit einem Händedruck von seiner Hilfs-Schwester. „... und kommen Sie bloß nie wieder hierher“, zieht er den Nachsatz hinter sich her.

      Karl weiß im Moment nicht: Hat der das wirklich gesagt, hat er das nur gemeint zu hören, oder entwickelt er seit Neuestem telepathische Fähigkeiten?

      Sowie ihr Counter-Part aus der Tür ist, instruiert Michaela ihn noch, sich am nächsten Morgen ein Taxi zu nehmen. Einen Zettel mit Adresse und Geld legt sie ihm auf den Nachttisch. Verschwindet.

      Karl lehnt sich zurück und schließt die Augen. Appetit hat er jetzt keinen mehr. Das bewahrt ihn allerdings nicht vor einem Vortrag seines Zimmergenossen über sein großes Glück, eine solche Schwester zu haben, über die Freundlichkeit der Ärzte, und ...

      Ein unter halb geschlossenen Lidern hervorgeschossener, gut gezielter Blick voller Verachtung bringt den anderen abrupt zum Schweigen.

      Max legt den Hörer auf: Na super, der Tag fing ja gut an – gleich am frühen Morgen ein Anpfiff von einem Kollegen. Nun gut, Zusammenarbeit mit egobeladenen Juristen klappte nicht immer so wie man es sich wünschte.

      Stirnrunzelnd wendet sie sich der aufgeschlagenen Akte zu, die vor ihr liegt, tippt die Aufforderung an ihren Sekretär in ihr iPad, er möge den nächsten Mandanten hineinbitten.

      Zügig öffnet sich die Tür, und herein kommt ein asiatisch aussehender Mensch mit zwei weiteren asiatisch aussehenden Menschen im Schlepp, alle drei tadellos in Maßanzüge gekleidet.

      Max wuchtet ihr nicht unerhebliches Gewicht aus dem bequemen Stuhl, den sie extra für ihre Bedürfnisse hat anfertigen lassen. Sie geht dem Klienten und seinen Begleitern entgegen. Sie begrüßt alle drei mit Handschlag und fordert sie mit einer Geste auf, in der rotledernen Sitzgruppe, die sich in einer Ecke ihres geräumigen Büros befindet, Platz zu nehmen.

      Platz nimmt jedoch lediglich der Chef; seine zwei Lakaien stellen sich in gebührendem Abstand hinter ihm auf.

      Max holt Unterlagen und Stift dazu und setzt sich ihrem Mandanten gegenüber. Sie lächelt ihn an, er lächelt zurück. Sie bietet Kaffee und Tee an, er lehnt mit einer herrischen Geste ab.

      „Was du gemach um mich frei zu mache von Gefängnis?“, erkundigt er sich höflich.

      Max senkt den Kopf ein wenig, weiterhin bleibt sie freundlich, runzelt jedoch fragend die Stirn – ein sicheres Verfahren, um ihrem Gegenüber zu signalisieren, dass er sich auf dem Holzweg befindet.

      „Was hast du gemach um mich frei zu mache von Gefängnis?“, rattert der Mann im selben Tonfall.

      „Herr Chang, ich verstehe nicht recht?“

      Max zieht die Augenbrauen zu einer steilen Falte zusammen, jetzt nicht mehr ganz so freundlich.

      „Was du gemach?“, fragt Herr Chang erneut, nun auch nicht mehr ganz so freundlich.

      Max setzt sich gerader hin und zeigt ihm ein reserviertes Gesicht.

      „Wenn ich mich recht erinnere, Herr Chang“, holt sie in kühlem Tonfall aus, „habe ich Sie erst letzte Woche aus der Justizvollzugsanstalt herausgeholt. Der Haftbefehl wurde außer Vollzug gesetzt; Sie sind jetzt auf freiem Fuß. Nun warten wir auf Ihre Gerichtsverhandlung.“

      „Was du sonst noch gemach, außer warte?“

      Max räuspert sich und lässt sich mit ihrer Antwort etwas Zeit, um dem, was sie nun sagt, mehr Gewicht zu verleihen.

      „Herr Chang, es gibt jetzt im Moment nichts weiter zu tun, als zu warten und sich auf die Verhandlung vorzubereiten. Heute wollen wir Ihre Verteidigungsstrategie besprechen, deswegen sind Sie hier."

      Und


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