Fälschung. Ole R. Börgdahl
Heinz Kühler am nächsten Tag zum Victoria and Albert Museum ging, besuchte er noch einmal die zu Tates gehörende National Gallery. Er hatte am Vortag eine Katalogbeschreibung über das Bild »Faa Iheihe« gelesen. Es stammte von 1898 und gehörte zu Gauguins Südseebildern. In der Ausstellung brauchte er nicht lange zu suchen, er fand das Bild sofort. Es hing in einem Raum, der sich mit insgesamt vier Bildern thematisch mit dem Maler Paul Gauguin beschäftigte, wobei nur das Bild »Faa Iheihe« aus der Südsee stammte. Es hatte ein etwas ungewöhnliches Format. Es war knapp fünfzig Zentimeter hoch und fast zwei Meter breit. Es war ein richtiges Ölgemälde, kein auf Leinwand gemaltes Aquarell. Er stand fast eine halbe Stunde davor, nur vor diesem einen Bild. Es waren mehrere Frauen abgebildet, ein Hund, der als Motiv immer wieder in Gauguins Werken auftauchte, und ein Reiter. Auch wenn alles zusammenzugehören schien, fehlte die richtige Einheit. Es schien, als wenn die Personen eher symbolhaft zusammenstanden. Heinz Kühler überlegte, ob er das Gemälde deshalb so verstand, weil er in den vergangenen Tagen zu viele Interpretationen über stilistische Eigenschaften von Kunstwerken gelesen hatte, oder ob er selbst auch so empfand. Er wusste es nicht genau. Er glaubte aber, dieses Symbolhafte auch in dem Bildnis der kleinen Julie wieder zu finden. Dann fiel ihm noch ein, dass Gauguin selbst nicht gewollt hatte, dass man seine Werke zu interpretieren versuchte, so hatte es Heinz Kühler zumindest irgendwo gelesen.
Die Gauguins waren das Einzige, was er sich in der National Gallery ansah. Er hatte wenig Zeit. Er wollte seine Recherche noch heute im Victoria and Albert Museum fortsetzen und auch beenden. Sein Ziel waren die Historic Catalogues of the National Art Library, einer Art Datenbank, in der er gezielt nach bestimmten Stichworten suchen konnte, um die Arbeit in der Tate Gallery noch einmal abzusichern. Unter Umständen gab es Lücken, Einträge, die er in den Ausstellungskatalogen übersehen hatte. Er rechnete mit knapp fünf Stunden.
Eine Stunde brauchte es allein, um wieder eine Zugangsberechtigung zu erhalten. Er wurde diesmal wenigstens nicht auf den nächsten Tag vertröstet. Während er wartete, suchte er aus seinen handschriftlichen Listen nach geeigneten Stichworten. Er schrieb an die fünfzig Begriffe heraus. Er hatte sich Titel von Gauguins Südseebildern notiert, die oft mit polynesischen Worten beschrieben waren. Er hatte zwar einige Übersetzungen in den Katalogen gefunden, aber von den meisten wusste er nicht, was sie bedeuteten. Sein zweiter Schwerpunkt waren Frauenbildnisse. Er notierte sich die Namen der Frauen und Mädchen, so wie sie in den Bildtiteln oder den Erklärungen zu den Werken zu finden waren. »Die schöne Angelie«, »Aline«, Gauguins Tochter, »Die nähende Suzanne« und nicht zuletzt die Namen der Geliebten, »Der liegenden Pau'ura« oder der »Javanerin Annah«. Er sah hinüber zu dem gläsernen Kasten, in dem gerade seine Zutrittsberechtigung hergestellt wurde. Es tat sich noch nichts. Er notierte sich weiter Stichworte. Jetzt waren die banalen Wörter dran, die wie er hoffte in Kombination mit den Gauguin spezifischeren Begriffen, erfolgreich sein konnten. Es waren Wörter wie »Boot« oder »Segelboot«, »Strand«, »Palme«, »Mädchen«, »Wasser«, »Sand« und nicht zuletzt die Wörter »Julie« und »Bois« oder eben »Wald«. Mehr fiel ihm nicht ein. Er würde sicherlich noch während der Recherche auf weitere Begriffe und Wortkombinationen stoßen.
»Mr. Kuhler«, wurde er von vorne angesprochen.
Vor ihm stand der Mann, dem er vor gut fünfundvierzig Minuten seinen Antrag ausgehändigt hatte. Britische Gründlichkeit dachte er noch.
»Mit diesem Ausweis können Sie das Gebäude jetzt betreten. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Arbeit«, näselte der Mann und gab ihm den checkkartengroßen Ausweis.
Heinz Kühler bedankte sich. Er kramte die Zettel zusammen, die er neben sich auf die Bank gelegt hatte, und stopfte alles in seine schwarze Mappe. Er begab sich zum ebenfalls gläsernen Drehkreuz, führte seinen neuen Ausweis in den Leseschlitz und wurde eingelassen. Die Karte war stabil wie für die Ewigkeit und war dennoch nur für heute und morgen gültig. Es war nicht das erste Mal, dass er die Historic Catalogues besuchte. Er kannte sich aus. Er musste sich jetzt nur noch ein Terminal zuweisen lassen und schon konnte es losgehen. Er wurde anscheinend schon erwartet. In einem Empfangsraum, den er nach der Drehtür betreten hatte, konnte er wieder ein Schließfach für seine persönlichen Sachen beziehen. Eine ältere Dame sprach ihn an, nachdem er das Schließfach verriegelt hatte.
»Mr. Kuhler?«, fragte sie, ebenfalls mit näselnder Freundlichkeit.
»Ganz richtig.« Er hielt seinen Ausweis hin, als wenn sie es von ihm gefordert hätte.
»Guten Tag. Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Terminal«, sagte die Dame leicht irritiert.
Sie ging voran und er folgte ihr durch einen Flur in einen Saal, in dem Dutzende Trennwände standen. Die Trennwände verbargen Computerarbeitsplätze. Vorne an jeder Trennwand war ein Schild mit einer Nummer angebracht. Sie hatte ihm noch nicht verraten, welches seine Nummer sein sollte. Sie gingen an zwei Reihen vorbei in die Dritte und dort etwa bis zur Mitte. Sein Platz hatte die Nummer dreiunddreißig, ohne Fenster, ohne Blumen, ohne jeden Schmuck. Er hatte vorher gewusst, was ihn erwartete. Er war heute zum vierten Mal hier, zuletzt vor gut zwei Jahren. Die Terminals waren erneuert worden. Das Victoria and Albert Museum legte immer größten Wert auf eine moderne und gute Einrichtung. Die Computer gehörten dazu, optimale Bedingungen für die Kundschaft.
»Sie finden hier eine Beschreibung zur Bedienung des Arbeitsplatzes«, erklärte die Dame. »Sie haben selbstverständlich Zugriff auf die Archivdatenbank und auch auf das Internet. Sie können unbegrenzt surfen.«
Sie sprach weiterhin leicht näselnd und darum wollte das Wort Surfen auch nicht recht zu ihr passen. Heinz Kühler hatte aber verstanden. Er nahm Platz. Sie schaltete ihm das Gerät ein und wartete noch, bis die Suchmaske der National Art Library automatisch erschien. Er bedankte sich und sie zog sich zurück.
Zunächst einmal wollte er sich ausbreiten. In der Reihe, in der er saß, war bis zur Nummer dreiunddreißig kein anderer Platz belegt. Er rollte mit seinem Stuhl gut einen halben Meter zurück und stieß beinahe an die Stellwand der Reihe hinter ihm. Er blickte zur Seite, konnte aber keine weiteren Rücken erkennen. Er hätte jetzt noch rufen können, um festzustellen, wer sich sonst noch in dem Saal befand. Es schickte sich aber natürlich nicht. Ruhe war hier selbstverständlich. Später hörte er noch jemanden husten, es klang aber etwas entfernt. Er holte schließlich seine Notizen hervor und las sie sich durch. Ihm fielen dabei noch ein paar Begriffe ein, die er dazuschrieb. Er nummerierte die Bereiche, mit denen er beginnen wollte. Er ging vom Groben zum Feinen. Er begann also mit den Allerweltsworten, wie »Boot« oder »Palme«. Das Ergebnis schränkte er ein, indem er jeweils den Namen »Gauguin« hinzunahm. »Palme und Gauguin«, »Boot und Gauguin«, »Strand und Gauguin«. Bevor er sich die Ergebnisse ansah, notierte er die Anzahl der Treffer. Er sah sich eigentlich keines der Ergebnisse an, weil die Anzahl der Treffer jedes Mal bei mehr als einhundert lag. Dann kombinierte er weiter, um die Treffer noch zu reduzieren. Aus der Ergebnisliste wählte er mehrere Artikel aus. Er konnte schnell erkennen, dass sie nichts mit dem zu tun hatten, nach dem er suchte. Bei den angezeigten Themen fand er zum Beispiel Ausführungen zur Bedeutung des Meeres in Landschaftsbildern oder die Sanduhr als Symbol der modernen Kunst. Es gab auch einige Treffer zu Gemälden und Zeichnungen. Es waren auch Bilder von Paul Gauguin darunter. Er sah schnell, dass er dieses Material bereits kannte. Ohne eine Pause ging er zu der zweiten Gruppe von Suchbegriffen. Es waren die Wörter, die mit der Südsee oder den Marquesas zu tun hatten, wie zum Beispiel »Hiva Oa und Gauguin«. Hier war die Anzahl mit zweitausendeinhundertvierunddreißig Treffern besonders groß. Er fügte den Namen »Julie« hinzu und erhielt siebzehn Treffer. Sofort öffnete er einen der Artikel. Er las sich die ersten Zeilen durch. Es ging um Stammesgeschichtliches über die Ureinwohner der Marquesas, um deren Steinkunst und Rieten. Den Namen »Julie« konnte er so schnell nicht finden. Über die Textsuche wurde er dann aber fündig. Der Artikel selbst, sowie zahlreiche Literaturangaben stammten von einer Julia Bredehorst. Das System hatte die Namen »Julie« und »Julia« als Suchungenauigkeit interpretiert und beide in die Ergebnisse mit eingebunden. In den übrigen Treffern tauchte diese Frau Bredehorst immer wieder auf. Eigentlich hatte er sich von dem Namen »Julie« mehr versprochen. Er entfernte in seiner Suche das »Hiva Oa«, sodass er nur noch die Begriffe »Julie und Gauguin« verwendete. Diesmal erhielt er hundertzweiundzwanzig Treffer. Er nahm mehrere Stichproben. In den Ergebnistexten kam