Fälschung. Ole R. Börgdahl
ist es auch eines meiner Kinder, die ich genauso liebe, wie die anderen, aber ich meine mehr meine erwachsenen Kinder, die mich nicht mehr kennen, die nicht mehr wissen, was aus ihrem Vater geworden ist, die es auch nicht wissen wollen.« Er stutzte erneut. »Es nicht mehr wissen können, weil sie...«
»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht...«, sagte sie und stockte.
»Es ist schon gut. Ich hatte eine erwachsene Tochter, darum war der Schmerz auch so groß.«
»Der Schmerz, was ist passiert, hat sie sich von Ihnen losgesagt?«
»Losgesagt«, wiederholte er. »Es war eine Krankheit. Aus meiner Kindheit habe ich in Erinnerung, dass schon meine Großmutter an einer Krankheit gestorben ist, an Typhus. Sie hieß Flora, sie war eine unbequeme Frau, so wie ich ein unbequemer Irrer bin. Es liegt wohl in der Familie, auch das mit der Krankheit. Ich hatte nie Gelegenheit, mir darüber eine eigene Meinung zu bilden. Ich habe meine Großmutter nämlich nicht gekannt, sie mich allerdings auch nicht, sie starb Jahre vor meiner Geburt. Die Tragödien wiederholen sich.«
»Und Ihre Tochter starb ebenfalls an Typhus, oder wollen Sie nicht darüber sprechen?«
»Ich kann über alles sprechen«, sagte er laut. »Ich habe den Schmerz besiegt. Es war kein Typhus, jeder hat seine eigene Krankheit. Es war Tuberkulose, so hat man es mir zumindest geschrieben. Es war ein kurzer Brief aus Dänemark, kennen Sie Dänemark?«
Sie nickte. »Dänemark«, wiederholte sie.
Sie schwiegen einige Zeit, dann sah sie auf den Stapel Papier. »Soll das ein Tagebuch werden?«
»Das ist gut erraten«, antwortete er. »Ja, es könnte so etwas wie ein Tagebuch sein. Es sind Erinnerungen. Wissen Sie, ich habe Abenteuer erlebt, noch in jungen Jahren, ich bin zur See gefahren, ich war auch beim Militär. Ich habe dann ein bürgerliches Leben geführt, habe gelitten und gehofft, bis heute und auch heute immer noch. Es kommt jetzt aus meiner Feder, oder besser gesagt aus diesem Grafit. Ich schreibe auch über das hier, ich glaube, Sie kommen auch darin vor, aber keine Angst, ich nenne ihren Namen nicht.«
»Darf ich es lesen?«, fragte sie und beugte sich schon über den Tisch.
Er zog das Blatt schnell an sich. »Entschuldigen Sie Madame, es, ist nicht so gut und es ist noch nicht fertig und ich glaube, Sie kommen doch nicht darin vor.«
Er stand auf, nahm den Stein vom Papierstapel und schob das Blatt zu den anderen. Er wickelte eine Schnur um den Stapel und verschwand in seiner Hütte. Sie blieb zurück und sah ihm nach.
»Brauchen Sie noch Geld?«, fragte sie, als er schließlich wieder auf die Veranda zurückkehrte.
»Hundert Francs, bitte«, antwortete er sofort. »Oder besser hundertfünfzig?«
Sie überlegte. »Dann bekommen Sie am Ende aber nur noch fünfzig Francs von mir.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich brauche noch vier Wochen. Wollen Sie wieder nachschauen, wie weit ich bin?«
»Natürlich«, antwortete sie. »Es ist aber kein Misstrauen.«
»Ich weiß, Madame. Ich weiß es mittlerweile«, sagte er mit ruhiger, überlegter Stimme. »Kommen Sie bitte mit.«
Er stieg von der Veranda, so gut er es mit seinem Fuß vermochte und ging voran. Er konnte heute etwas besser laufen als sonst, aber er humpelte immer noch. Sie folgte ihm.
»Es ist heute ein schöner trockener Tag«, sagte er und drehte sich dabei zu ihr um. »Ich habe das gute Wetter genutzt, kommen Sie es steht dort auf der Lichtung.«
Es waren gut hundert Meter bis zur Lichtung, auf deren rechter Seite sich weit hinten das Meer öffnete.
»Ich habe heute Morgen daran gearbeitet. Es macht mir immer mehr Freude. Wissen Sie Madame, ich bin im letzten Jahr hierher geflüchtet. Das letzte Jahr war schwierig für mich. Ich habe mich mit meinem Schaffen hier noch nicht zu recht gefunden, auch fehlte mir das Geld. Mein Tatendrang ist zwar schon wieder erweckt, aber den richtigen Schwung haben nur Sie mir gegeben, mit Ihrem Auftrag. Ich bin jetzt viel euphorischer. Ich habe auch einige neue Vorschläge. Ich habe Sie ja vor meinen Ideen gewarnt, wenn ich erst einmal wieder in meinem Element bin.«
»Arbeiten Sie immer hier?«, fragte sie.
Sie sah sich um. Es war ein heller Platz. Er hatte sich neben das Gestell gehockt und verzog das Gesicht. Der Fuß schmerzte kurz, als er in die Knie ging. Er erhob sich schnell wieder.
»Und, was sagen Sie, entspricht es Ihren Vorstellungen? Hier am Rand, sehen Sie das.« Er zeigte auf mehrere Stellen.
Sie trat näher heran. »Schön, es ist in Ordnung, Sie können es so lassen«, bestätigte sie.
Er spürte, dass sie von dem, was er ihr zeigte, nicht sehr beeindruckt war. Sie interessierte sich nur für eines. Sie ging einige Schritte zurück und betrachtete sich das Werk. Sie flüsterte etwas, das er zwar nicht verstand, aber an ihren Lippenbewegungen erraten konnte.
»Vier Wochen sagten Sie?«
»Höchstens, Madame, Sie sehen ja selbst«, sagte er zufrieden.
»In zwei Wochen fahren wir zurück. Sie werden es mir also bestimmt nachschicken müssen.«
Sie zog einen Zettel aus ihrer Handtasche und suchte auch nach dem Geld darin. Sie gab ihm den Zettel und ein paar Franc-Scheine in die Hand.
Er sah sich die Adresse an. »Ich werde es fertigmachen, Madame, in drei oder vier Wochen.«
»Ich gebe Ihnen jetzt alles Geld, das wir vereinbart haben und noch ein wenig mehr, wenn Sie es noch verpacken.«
Er nickte und sah auf die Franc-Scheine und auf den Zettel.
*
Als sie die Insel verließen, hatte er am Rande der Bucht auf einem Stein gesessen und das Auslaufen des Schiffes beobachtet. Madame hatte ihn erkannt und einmal kurz zu ihm hinübergesehen. An diesem Tag blieb er noch eine gute Stunde auf seinem Stein sitzen, bevor er durch die Siedlung schritt. Er vermied es, an der Kapelle vorbeizugehen. In dem kleinen Laden war er seit einigen Wochen wieder ein gern gesehener Gast. Er kaufte fünf Graphitstifte und zwei Dutzend Blatt Papier. Das Schreibpapier hatte er mittlerweile aufgebraucht. Sie hatte ihm extra Geld für den Versand dagelassen. Es reichte für eine sorgfältige Verpackung. Er gönnte sich einen Besuch in der Taverne. Es war später Nachmittag, nicht zu früh für ein Glas.
Am nächsten Tag ging er nicht zur Taverne. Er saß am Nachmittag auf seinem Stein in der Bucht und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Er hatte festgestellt, dass es ihn inspirierte. In der Nähe des Anlegers spielten einige Kinder. Er dachte sofort an die beiden kleinen Mädchen. Er überlegte, welcher Tag war, welches Datum, aber es war nicht wichtig. Er sah mit geschlossenen Augen in die Sonne, die Wärme war herrlich. Er vergaß seine letzten Gedanken, er hatte neue Projekte. Er konnte wieder malen. Er malte den Strand mit Reitern, er malte die Menschen hier und er malte mystische Dinge voller symbolhafter Kraft. All das gab ihm neuen Schwung und dieser Schwung würde sich gegen etwas Verhasstes richten, etwas, das hier nicht hingehörte, hier in dieses Paradies, das schon keines mehr war. Er wollte sich auf die Seite der Unterdrückten, der Bevormundeten schlagen, wie er es schon des Öfteren getan hatte, immer zum Unwillen der Obrigkeit. In diesem Moment sah er aufs Meer hinaus. Er war nicht der Erste, der die Rauchsäule am Horizont entdeckt hatte. Die Post, dachte er, endlich.
2 Das Bild
Die Heizungen im Verwaltungsgebäude des Kunst- und Auktionshauses Blammer waren vollends aufgedreht. Es war immer noch sehr kalt draußen. Es hatte wenigstens nicht mehr geschneit. Der letzte Schnee war bereits Ende Februar geschmolzen. Es gab aber keine Garantie, dass sich in München jetzt langsam milderes Wetter durchsetzte. Simon Halter schaute auf den Kalender, der neben seinem Schreibtisch an der Wand hing.
»Heute ist der 16.«, sagte er zu Heinz Kühler, »dann haben wir ja noch die ganze Woche Zeit.« Er sah auf das untere Kalenderblatt und stutzte. »Was bedeutet denn