Johann Gabb. Thomas Pfanner

Johann Gabb - Thomas Pfanner


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Leben, zuerst symbolisch, später dann einige Male um Haaresbreite tatsächlich. Eine lebensbedrohliche Gefahrenlage nach der anderen galt es seither, zu meistern.

      Er hatte alles überlebt. Körperlich nahezu unversehrt blieben doch tiefe Wunden. Keine Narben, nur Wunden. Er blickte zurück und sah eine unendliche Abfolge verschiedenster Ereignisse, ähnlich der unendlich scheinenden Abfolge der Lichter, die von ihm weg und zu ihm hin eilten. Ein ganzes Leben breitete sich vor ihm aus. Ein langes Leben, ein Leben voller merkwürdiger, denkwürdiger und erstaunlicher Geschehnisse. Und doch war nichts Einzigartiges daran gewesen. Tausende hatten Gleiches oder Ähnliches erlebt, viele waren gestorben.

      Er kannte seine Aufgabe. Er ließ die entscheidenden Situationen seines Lebens Revue passieren, die Wendepunkte, die Lebensabschnitte beendet hatten, prüfte, bewertete, wog ab. War sein Leben wertvoll gewesen? Hatte er mehr richtig als falsch gemacht? An welchen dieser Wendemarken hatte es gegolten, Entscheidungen zu treffen, die für den nächsten Lebensabschnitt von existenzieller Bedeutung gewesen waren? Fragen über Fragen und keine leichte Antwort. Er ließ sich von seiner Stimmung treiben, betrachtete sich selbst dabei, wie er in seinen Gedanken die verschiedenen Zeitpunkte in einem Leben ansteuerte und noch einmal durchlebte, wenn auch nur in einer Kurzfassung, die wesentlichen Momente darstellend. Die Gefühle von damals gerieten sehr authentisch. Hin und wieder weinte er, manchmal lächelte er, meist jedoch überwog ein tiefes Gefühl von Verlust.

      Nach einer langen Zeit des trübsinnigen Nachdenkens spürte er mehr, als dass er es sah, wie sich jemand neben ihn setzte. Er brauchte nicht hinzusehen, noch immer erkannte er seine Verwandten auf der Stelle, selbst über größere Entfernungen hinweg. Er hatte immer gewusst, wo er suchen musste, um Familienangehörige aufzuspüren. Natürlich hatte sein Enkel diese Gabe geerbt.

      »Siehst du das? All diese Lichter.«

      »Natürlich, Opa. Warum interessieren sie dich?«

      »Jedes Licht steht für einen Menschen. Jeder Mensch verkörpert sein Schicksal, er trägt es ständig bei sich, weißt du? Diese Lichter streifen durch die Gegend, scheinbar auf festen Routen, wohlgeordnet, eins hinter dem anderen. Und doch treibt jedes Einzelne einem unbekannten Ereignis entgegen, das es nur für ihn allein geben wird.

      Alles wirkt so unglaublich harmlos, beinahe anmutig. Eine Sekunde später wendet sich das Blatt. Einzelne Lichter verabschieden sich für immer, ohne es gewollt oder jemals geplant zu haben. Die anderen Lichter bleiben übrig, kümmern sich nicht um die anderen, die vorhin noch mit ihnen eine Gemeinschaft gebildet haben. Ein paar Sekunden später sind die Ausgeschiedenen vergessen, niemand trauert ihnen nach. Es ist die Tragik, die über allem liegt. Nur der Augenblick zählt.«

      Der Junge schaute verwirrt von der Lichterkette zu seinem Großvater und wieder zurück. Er spürte es und lächelte traurig, wandte den Kopf und sah seinem Enkel in die Augen.

      »Du musst eines begreifen, die Grundregel unseres Daseins: Nichts wird von dir bleiben. Du wirst geboren, lebst dein Leben, wie du es eben für richtig hältst. Du stirbst, wenn du gar nicht damit rechnest. Deine letzten Gedanken werden der Erkenntnis gewidmet sein, dass du erschreckend wenig davon eigenständig und frei bestimmt hast. Das allermeiste wird von anderen Menschen entschieden, viele von denen wirst du in deinem ganzen Leben gar nicht zu Gesicht bekommen. Staaten werden dir in dein Leben pfuschen, die du nie gesehen hast. Dein Lebensweg wird nicht planbar sein. Überhaupt nicht.«

      Der Junge presste die Lippen zusammen. Er verstand nicht, worauf sein Großvater hinauswollte. Natürlich nicht, er war noch so jung. Er verfügte über Wissen und Bildung, aber nicht über die nötige Erfahrung. Daher unterlief ihm der verzeihliche Fehler, aufgrund seines Wissens das Leben verstehen zu können. Er nahm den Jungen bei der Hand.

      »Du kannst alles besitzen, Geld, Land, eine schöne Frau, alles. Im nächsten Moment bist du arm und allein, einfach so. Alles, auf das du dich verlassen kannst, ist dein Kopf. Je mehr du kannst, desto besser sind deine Überlebenschancen. Wenn es dir gelingt, zusätzlich über einen gesunden Menschenverstand zu verfügen und du es verstehst, dich von den Verführern fernzuhalten, umso besser. Ohne Begabungen, ohne Wissen, ohne die Fähigkeit, die Dinge klar zu sehen, bist du verloren.«

      Er drückte seinen Enkel fester. »Niemand wird dir nachtrauern. Du wirst sein wie eines dieser Lichter, schön anzusehen und plötzlich weg. Aus, Ende.«

      Sein Enkel zeigte Anzeichen echten Erschreckens. »Opa, besser, wir gehen nach Hause. Es ist praktisch schon dunkel. Meine Mutter macht sich Sorgen.«

      Er ließ seinen Enkel los und zeigte auf die Lichterkette. »Das hier ist wichtiger. Ich erzähle dir, wie es angefangen hat. Es begann mit einer Lichterkette wie dieser. Am Schluss endeten zweihundert Jahre Geschichte, ohne Vorwarnung.«

      Er begann zu erzählen, leise, mit drängender Stimme. Eine innere Stimme zwang ihn dazu, deshalb befand er sich hier. Die Zeit war reif. Fünfzig Jahre Schweigen endeten heute. Er werde erzählen, alles erzählen, damit seine Nachkommen Bescheid wussten. Dies mochte seine letzte Möglichkeit sein. Hoffentlich verstand sein Enkel, mit dem neuen Wissen umzugehen. Er würde ihm sein Wissen geben, damit er für restliche Zeit seines jungen Lebens gerüstet wäre, die Zeit ohne Großvater.

      Du kannst die Heimat verlassen

      aber die Heimat verlässt dich nie.

      Johann Gabb

      Juni 1944, Mágocs

      Johann Gabb stand an der Straße und betrachtete die lange Lichterkette, die sich auf Mágocs zu bewegte. Der Tag war warm und trocken gewesen, die Nacht schickte sich an, sehr still und stockfinster zu werden. In dieser Ecke von Ungarn glänzte der Fortschritt durch Abwesenheit. Die Äcker beackerte man nach wie vor mit Pflügen, die von Pferdegespannen gezogen wurden. Elektrisches Licht gab es nicht. Kurz vor Mitternacht war es finster wie in einer Kuh, wie sich die Leute auszudrücken beliebten. Dunstschleier verstärkten die Dunkelheit noch zusätzlich, weil sie das helle Licht der Sterne abhielten. Von daher wirkten die herannahenden Lichter heller, als sie in Wirklichkeit waren. Johann kannte das schon, er wusste, wer da herannahte. Die SS liebte Auftritte bei Dunkelheit, den Wochenschauberichten zufolge gab es im ganzen Deutschen Reich nur noch Aufmärsche bei Nacht. Je dunkler, desto besser. Vor einem halben Jahr waren sie schon mal ins Dorf eingefahren.

      Eine freiwillige Rekrutierungs-Aktion durchzuführen, so lautete ihr Auftrag. Nachdem damals vierzehn Männer freiwillig mitgegangen waren, konnte er sich lebhaft vorstellen, was heute Nacht ablaufen werde.

      Johann seufzte tief. An Flucht war nicht zu denken. Alles, was er besaß, jeden, den er kannte, seine Liebsten, befand sich in Mágocs. Weiter als dreißig Kilometer hatte er sich nie entfernt. Und jetzt das.

      »Jetzt bin ich wohl dran«, murmelte er.

      Die ersten Fahrzeuge trafen ein und fuhren einfach durch, bis zum anderen Ende der Straße. Johann blickte in die Gesichter der Kradfahrer, der Automobile und der Lkw und was er sah, beunruhigte ihn noch mehr. Gesichter voller Verbitterung und Ermüdung, grau, eingefallen, leblos. Hier rückte keine siegesgewisse Truppe ein, sondern ein Haufen demoralisierter Soldaten, die jegliche Hoffnung verloren hatten. Dabei handelte es sich um die angeblich unbesiegbare Elite des Deutschen Reiches, die gefürchtete SS. So gefürchtet, dass sie übers Land zogen, um einfache Bauern in ihre Reihen zu pressen. Johann spuckte einen dicken Batzen Schleim in den Staub der Straße. Bedächtig ging er die wenigen Schritte zum Marktplatz. Sein Haus befand sich in der Arpad ucza, die wie fast alle Straßen in Mágocs von einer der beiden Hauptstraßen abzweigte. Diese beiden Straßen kreuzten sich in diesem Ort, wohl auch ein Grund für die SS, sich hier einzunisten.

      Die ganze Kolonne reichte weiter als die Ortschaft. Als die ersten Fahrzeuge am anderen Ende von Mágocs haltmachten, kamen die letzten Fahrzeuge jenseits des großen Hügels zum Stillstand, immer noch zwei Kilometer vom Ortsrand entfernt. Es entstand ein Augenblick des Durcheinanders, in dem niemand so recht wusste, was zu tun sei, bis laute, barsche Kommandos die Auflösungserscheinungen im Keim erstickten. Die Fahrzeuge fuhren wieder an, bogen in die Seitengassen ab, wendeten dort, schmiegten sich in Fluchtstellung dicht an die Häuser oder platzierten sich unter großen Bäumen. Sodann begannen die Soldaten damit,


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