Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
merkwürdig, seit diesem Gespräch mit Fritz Rauch im Mai des Jahres 1983 ließen sie ihn erst mal in Ruhe.
7.
In den Westnachrichten hatten sie gebracht, dass der Vatikan plane, Galileo Galilei zu rehabilitieren. Als Wauer diess das erste Mal hörte, musste er laut lachen. Die Curie war so offensichtlich ein ähnlicher Laden wie die sozialistische Einheitspartei, dass er sich fragte, wieso er nicht schon eher darauf gekommen war. Stalin, der ehemalige Musterschüler des orthodoxen Priesterseminars von Tiflis, hatte sein ganzes Herrschaftssystem nach dem Modell der katholischen oder den ost-orthodoxen Kirchen aufgebaut. Es war alles da: Der Patriarch oder Papa, die heilige, unumstößliche Wahrheit mit ihren Dogmen, die Hierarchie von Kardinälen, Bischöfen und Priestern, die Seminare, die Inquisition bzw. Tscheka, der Geheimdienst, die Geheimhaltungssucht wie beim Papstgeheimnis7, die Folterkeller, der unbedingte Gehorsam und die ständige alltägliche Litanei. Nach Chruschtschows Enthüllungsrede auf dem 20. Parteitag der KPDSU war diese Art der Machtausübung zwar wesentlich abgeschwächt, aber nicht grundsätzlich verändert worden. Eine Partei des leninschen Typus waren weder diese noch die SED.
Allerdings musste Wauer konstatieren, dass die ostdeutsche Variante unter Honecker lediglich noch Stalinismus light war, wenn auch Andersdenkende in nicht geringer Zahl in den Gefängnissen der Staatssicherheit wieder auf den rechten Weg gebracht werden sollten. Einen ostdeutschen Archipel Gulag8 hatten die Genossen um Walter Ulbricht jedoch niemals errichtet. Wauer nahm sich vor, baldmöglich einen Weg zu suchen, wie er ohne größeren Schaden aus dieser im Grunde lächerlichen Vereinigung herauskäme. Ein Anfang hierzu war durch seine Zwangsversetzung auf die Großbaustelle nach Frankfurt-Oder-West jedenfalls gemacht.
Nun also setzte Papst Johannes Paul II. eine ‚hochkarätige’ Kommission aus Theologen und Wissenschaftlern ein, welche prüfen sollte, ob das Urteil der Curie gegen Galileo Galilei vom 22. Juni 1633 aufgehoben werden könne. Das hieß, dass der Vatikan jetzt, im Jahre 1983, dreihundertfünfzig Jahre später, und initiiert durch die Veranstaltungen um den hundertsten Geburtstag Einsteins vor vier Jahren, der der Welt noch ein ganz anderes neues Weltbild offeriert hatte, ernsthaft darüber nachdenken wollte, ob man das Dogma von der einmaligen Kosmozentrik der Erde offiziell aufheben sollte. So ungefähr musste es im Sekretariat des Politbüros und im Zentralkomitee der Partei zugehen, wenn sie von einem ihrer Postulate ablassen und wegweisende, einst unumstößliche Sätze Lenins oder Stalins als überholt erklären mussten, dachte sich Wauer.
Nun, weder Galilei, der immerhin nur sechs Jahre jünger als Giordano Bruno gewesen war und vermutlich viel von ihm gelernt hatte, noch dieser gewannen bei der internationalen Wissenschaftsgemeinde durch diese Maßnahmen der Führung der katholischen Kirche etwas hinzu. Die Genialität und Richtigkeit der Erkenntnisse dieser Menschen, die immerhin hundert Jahre, nachdem Luther seine Thesen gegen den Ablasshandel veröffentlicht hatte, noch in einen derartigen Konflikt mit der Curie geraten waren, war von den Menschen der Aufklärung längst anerkannt. Die katholische Kirche allein wollte durch dieses Verfahren etwas gewinnen!
Da aber die merkwürdig ambivalent programmierten Menschen in dieser Organisation ebenso wie in Wauers SED dazu neigten, sich an irgendwelchen seine festhalten zu wollen, so lange es ging und ungern eigene Verantwortung trugen, war nicht damit zu rechnen, dass die Partei, die die einzig richtige wissenschaftliche Weltanschauung und den wahren Wissenschaftlichen Kommunismus verkörperte, irgendwann und irgendwie demokratischer würde, als die vollkommen undemokratische und noch dazu von zölibaten Männern geleitete einzig rechte Kirche.
Galileo Galilei widerrief nicht kampflos, war aber schlau genug, sich nicht durch eigene Sturheit auf den Scheiterhaufen zu bugsieren, wie dies Giordano Bruno gemacht hatte. Natürlich war Giordanos Weg irgendwie das glaubwürdigere und elegantere Zeichen, etwa so mythenbildend wie die angebliche Kreuzigung Christi. Aber Wauer fand, dass es dennoch nicht zur Nachahmung anregte.
Etwa zur gleichen Zeit wurden in Westdeutschland von der renommierten Zeitschrift Stern angeblich soeben aufgefundene Hitlertagebücher veröffentlicht. Es war erstaunlich, welches Aufsehen und welches Interesse dieser Vorgang im deutschen Volke hervorrief. Wauer hatte das Empfinden, als befänden sich gewisse Kreise in der BRD in der Erwartung einer Wiederauferstehung des Führers. Jedenfalls meinten nach den Lektüren der nach und nach erscheinenden Tagebucheinträge nicht wenige meinungsbildende Politologen, Historiker und Institutsleiter, nun müsste die deutsche Geschichte umgeschrieben werden. Daran haben gewiss viele ein dringendes Interesse, dachte Wauer, denn es war nicht gerade befriedigend für einen Deutschen, in der ganzen übrigen Welt als einer dazustehen, dessen Volk den Holocaust organisiert und zwei Weltkriege mit zuerst zwanzig und danach fünfzig Millionen Toten angezettelt und dann auch noch verloren hatte.
Kurz bevor die beiden Wauers, Vater und Sohn, mit dem verlässlichen Trabant Kombi in die Slowakei zu ihrem Berg-Zelturlaub aufbrachen, stellte sich heraus, dass diese Hitlertagebücher Meisterwerke eines begabten Fälschers waren. Aber die Auflage der Zeitschrift Stern hatte sich zu dieser Zeit annähernd verdoppelt. Das war doch ein schönes Beispiel für Kapitalismus in Reinkultur! Marx hätte seine Freude daran gehabt.
8.
Sie waren am 9. Juli vormittags in Frankfurt-Oder losgefahren. Der Weg sollte durch Polen über Zielona Gora, dem vormaligen Grünberg, Breslau, an Gleiwitz und Kattowice vorbei bis hinauf nach Zakopane und dann über den Grenzübergang Javorina, hinüber in die Slowakei zu dem auserkorenen Zeltplatz in Strebske Pleso führen. Das waren etwa achthundert Kilometer über schlechte polnische Straßen, die die beiden in ihrem DDR-Volkswagen sowieso nicht an einem Tage hätten bewältigen können. Wauer hatte deswegen einen Zwischenhalt in der Gegend von Bytom vorgesehen. Am liebsten hätte er einen Tag für die Besichtigung der Gedenkstätte des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau geopfert. Aber dann hatte er seinen Sohn Lothar, der am 21. März des Jahres elf Jahre alt geworden war, doch noch als zu klein für solch eine Belastung befunden und war bis in die Gegend von Krakau vorgestoßen, wo sie ihr Zelt abends auf der Wiese eines Bauern aufstellen durften.
Ihren Urlaub verbrachten sie dann aber doch nicht wie geplant in Strebske Pleso, da ihnen der dortige Zeltplatz nicht gefiel. Das große Europa-Camping unterhalb von Tatranska-Lomnica sagte ihnen dann auch nicht richtig zu, da es ihnen viel zu riesig und zu teuer erschien und außerdem ziemlich weit weg von der Tatra-Bahn gelegen war, die sie zum Erreichen der Ausgangsorte für ihre Bergwanderungen benutzen wollten. So landeten sie schließlich in einem kleinen, romantischen Lager in Tatranska-Polianka, das preiswert, schön schattig, inmitten alter Kiefern und noch dazu an einem wasserreichen Bergbach gelegen war.
Der Juli des Jahres 1983 wurde als einer der heißesten der letzten Jahrzehnte beschrieben und das spürte man selbst an diesem hochgelegenen Ort. Der Bach führte aber noch genügend Wasser, welches kühl und rein von den Hängen der Hohen Tatra herabgeflossen kam. Fleißige Zelturlauber vor ihnen hatten an einer Stelle des Gewässers, das wie alle Gebirgsbäche mit unzähligen bunten großen und kleinen, angenehm abgerundeten Steinen verschiedenster Herkunft übersät war, ein Wehr gebaut, so dass sich ein Badebecken angestaut hatte, welches tagsüber meist voll besetzt war.
Abends saß man oft am Lagerfeuer am kleinen Flüsschen und trank Tee oder Tee mit Rum oder Wodka-Cola, je nach Alter und Bedürfnis. Lothar fand bald gleichaltrige Freunde und konnte an den Ruhetagen, an denen nicht gewandert wurde, nach Herzenslust am oder im Bach oder im angrenzenden Wald spielen. Wauer lernte nach ein paar Tagen Skatfreunde kennen, so dass an den hellen Abenden auch oft miteinander geskatet wurde.
Ihn trieb es aber bei dieser außergewöhnlichen Sommerhitze im Tal hinauf in die Berge. Sehr bald fuhren Vater und Sohn daher an einem Wochentag zeitig hinüber nach Tatranska-Lomnica, um früh die Bergseilbahn zu erwischen, die sie auf die 2632 Meter hohe Lomnitzspitze bringen sollte. Sie kamen mit den wartenden Touristen in eine der ersten Gondeln und hatten auf dem Gipfel eine wunderbare Fernsicht, wie dies nur selten vorkommt. So konnten sie wirklich fast das gesamte kleinste Gebirgsmassiv Europas einschließlich der im Osten querliegenden, so genannten Weißen Tatra übersehen.
Das war ein guter Einstieg in ihren