Im Eckfenster. Gerstäcker Friedrich
Warenvorrat wieder in Stand zu setzen. Natürlich akkordierte ich die Arbeit, das Stück zum halben Dollar, was allerdings meinen ganzen Barvorrat so ziemlich auf die Neige brachte, aber ich wusste auch, wohin mit meinem Ankauf. In Peru war wieder eine Revolution ausgebrochen, die Spanier bedrängten das Land ebenfalls, und da gerade ein englisches Schiff Ladung für Lima einnahm, packte ich meinen ganzen Warenvorrat auf und ging nach Peru.
Ich hätte nichts Gescheiteres tun können. Ich verkaufte meine sechstausend Gewehre, die mich wenig genug gekostet hatten, jedes einzelne mit vier bis fünf Dollar Nutzen und bekam dadurch ein tüchtiges Kapital in die Hände. In Peru selbst machte ich dann noch ein paar andere glückliche Spekulationen, und – da bin ich! Das Heimweh packte mich und ließ nicht eher locker, bis ich den nächsten besten Dampfer über Panama benutzte, um zu euch zurückzukehren. Wie lange ich hier bleibe? Quien sabe - die Zeit muss es lehren, aber ich musste euch erst einmal wiedersehen, und kann ich mich dann mit dem alten Deutschland und seinen etwas wunderlichen Einrichtungen nicht befreunden, nun gut, dann fahre ich wieder nach dem Süden zurück und beginne mein abenteuerliches Leben aufs Neue."
Die Eltern hatten ihn mit keiner Silbe unterbrochen, denn was sie hörten, war zu ungeheuerlich, um sich ihrer Gefühle gleich bewusst zu werden oder ihnen sogar Ausdruck zu verleihen. Ihr Sohn, Hans von Solberg, Nachkomme des freiherrlich Solbergschen Geschlechts, als Kofferträger, als Handlanger, als Tagelöhner und dann mit dem Ankauf alter, ausrangierter Gewehre beschäftigt, um sie, da man sie dort für untauglich fand, mit vier bis fünf Dollar Nutzen für das Stück einem anderen Staate aufzuhängen! – Die Mutter fühlte allerdings mehr das Unpassende einer solchen Tätigkeit, und ebenso vielleicht die Schwester, der Vater dagegen in seinem alten, bis jetzt durch nichts gebrochenen Adelsstolze wagte diesen entsetzlichen und mit der größten Unbefangenheit vorgebrachten Tatsachen gegenüber kaum zu atmen, und als Hans endlich schwieg, war es ihm, als ob eine Zentnerlast von seiner Brust genommen, eine andere aber noch darauf liegen geblieben wäre.
„Das ist die Welt da draußen", murmelte er endlich leise vor sich hin. „Das sind die Länder, welche man die gelobten nennt – unbegreiflich, unbegreiflich!"
Hans hatte, in seine alten Erinnerungen vertieft, die Gegenwart der Eltern fast vergessen, keinesfalls aber an ihre alten Vorurteile und Ansichten dabei gedacht – du lieber Gott, sie waren in den alten Zopfverhältnissen aufgewachsen und konnten ja keinen Begriff von dem neuen, frischen Leben da draußen haben!
„Und das sind lauter Republiken?" gab der Vater endlich seinen Gedanken Worte.
„Lauter Republiken, Papa."
„Aber du erwähntest doch vorhin, dass du jenen – jenen Handel mit einer Regierung abgeschlossen hättest, mein Sohn."
„Nun ja, Papa, mit der republikanischen Regierung."
„Republikanische Regierung", murmelte der Freiherr halblaut und mit dem Kopf schüttelnd vor sich hin. "Das kommt mir gerade so vor, als ob ich sagen wollte: Monarchistische Anarchie, gesetzlicher Aufruhr, wohlwollender Mord oder etwas derartiges – republikanische Regierung, wo jeder tun und lassen kann, was er will – es ist rein lächerlich. Sage einmal, Hans, es müssen doch da ganz trostlose Zustände sein, und ich kann mir die Sache noch eigentlich gar nicht recht denken – eine Anarchie in Permanenz erklärt, eine ununterbrochene Revolution ohne Strafen für Meuterer oder Belohnungen für dem Throne anhängende Getreue. Es ist ganz undenkbar, dass so etwas nur auf die Länge der Zeit bestehen könnte, und trotzdem scheinen sich die Leute darin so wohl zu fühlen wie ein Hering im Salzwasser."
Hans lachte. „Ihr denkt euch die Sache hier viel gefährlicher, als sie wirklich ist, wenn ich auch nicht leugnen will, dass sie es mit ihren ewigen Revolutionen manchmal ein wenig bunt treiben. Sie behelfen sich aber doch ganz leidlich ohne Fürsten und werden besonders nie durch zu riesenhafte Pensionen, die hier einen Staat erdrücken und aushungern können, behelligt. Wer dort am Ruder oder in einem Amte ist, drückt sich heraus, was er kann, und so schnell als möglich, und damit basta, und wer nach ihm kommt, mag eben dasselbe tun."
„Schöne Zustände", nickte der Vater, „und was für Betrügereien solcherart finden in Amerika statt!"
„Die Ansichten von Ehrlichkeit sind dort eben andere als bei uns", sagte der Sohn achselzuckend. „Ein reich gewordener Betrüger kann der Gefeierte der Gesellschaft werden, ein ruinierter wird verachtet, bis er es wieder zu etwas bringt."
„Das ist ja aber schaudererregend!" rief der Freiherr aus.
„Und eigentlich genauso wie bei uns", meinte Hans. „Ich bin fest überzeugt, dass es hier ebensoviel vornehmes Pack gibt wie woanders, die Gelegenheit wird hier den Einzelnen nur nicht so rasch geboten, ihre Lage zu verbessern, wie dort drüben. Menschennatur bleibt aber doch gewiss überall dieselbe."
„Das muss ich sagen", bemerkte der Vater, langsam vor sich hinnickend, „du hast saubere Ansichten mit aus deinem Amerika hier herüber und in unsere geordneten Verhältnisse gebracht. Die werden wir wahrscheinlich einer gründlichen Revision unterwerfen müssen, um der eigentlichen Contrebande auf die Spur zu kommen."
Franziska hatte kurz vorher das Zimmer verlassen, um die nötigen Anordnungen für die Einrichtung von Hans alter Stube zu treffen, damit diese wieder wohnlich gemacht wurde, jetzt kehrte sie zurück.
„Ja, mein Sohn", sagte auch die Mutter, „ich fürchte fast, dass Du aus unseren wirklich gesitteten Zuständen ein wenig herausgewachsen bist."
„Meinst du, Mama?"
„Es wird viel Mühe kosten, dich da wieder hineinzupassen."
„Aber, beste Mutter!" rief Hans. „Das freie, prächtige Leben das draußen, diese völlige Ungebundenheit hat doch auch wieder viel Angenehmes, und ich gestehe dir aufrichtig, mir graust es ordentlich vor diesen eben erwähnten und fast ein wenig zu sehr geordneten Zuständen. Hier in Deutschland hat jeder sein bestimmtes Gefach von unten an und an der ganzen Wand hinauf. Es ist wie ein großer Bücherschrank mit Abteilungen, und darin liegt er und knurrt jeden an, der ihm zu nahe kommt. Er muss auch dabei sein Bestimmtes auf einen bestimmten Tag gebracht bekommen, und verzehrt es allein, die reine Stallfütterung, und ich bin jetzt so an freie Weide gewöhnt."
„Welch entsetzlicher Vergleich!" rief die Mutter wirklich schaudernd aus.
Hans hatte sich im Zimmer umgesehen, es war fast, als ob er etwas suche.
„Was ich euch fragen wollte", sagte er dann. „Wie geht’s denn dem kleinen Käthchen, und wo ist sie? Sonst frühstückte sie doch immer mit. Sie ist doch nicht gestorben?" setzte er rasch und erschrocken hinzu.
„Nein", sagte die Mutter, aber die Frage schien ihr nicht angenehm. „Damals war Käthchen aber auch noch ein kleines Kind und gewissermaßen bei uns aufgewachsen."
„Gewissermaßen?" fragte Hans erstaunt. „Wir waren ja doch wie Geschwister, und Fränzchen und Käthchen erhielten ihren Unterricht gemeinsam."
„Allerdings", erwiderte Frau von Solberg, aber noch immer zurückhaltend. „Käthchen war auch ein liebes, gutes Kind, bis – einige Misshelligkeiten eintraten, die – die uns zwangen, uns von ihr zu trennen."
Hans sah den Vater an, aber er bemerkte, dass dessen Brust ein Seufzer hob. Der Kammerherr schaute sehr ernst und, wie es ihm vorkam, niedergeschlagen vor sich hin. Es musste da etwas vorgefallen sein, was die Eltern nur ungern berührten, und war er auch entschlossen, das herauszubekommen, so mochte er doch nicht gleich jetzt, in der ersten Stunde ihres Beisammenseins, zu einer Erklärung drängen, die ihm nicht gern und freiwillig geboten wurde. Nur seine Gedanken weilten noch bei der kleinen Spielgefährtin.
„Wie alt war Käthchen noch damals, als ich fortging?" sagte er, halb dabei wie zu sich selbst redend. „Nicht wahr, so alt wie Fränzchen?"
„Allerdings, die Kinder waren nur drei Monate auseinander", nickte die Mutter.
„Und wie lange ist sie nachher noch bei euch geblieben?"
„Sie hat uns erst vor etwa acht Monaten verlassen."