Semester of Love. Pit K
meiner drei zu schreibenden Klausuren in die Hände zu bekommen. Diese Erfolge waren Grund genug, mir zu erlauben, ein weiteres Mal bei Bölling einzukehren, wobei diesmal der Kaffee gegen ein Bier getauscht wurde. Der Nachmittag war ja schon weit fortgeschritten.
Gut gestärkt, wesentlich entspannter als am Vormittag und einigermaßen gelaunt, machte ich mich auf den verdienten Heimweg. Nach einer fast halbstündigen Busfahrt stand ich vor meinem trauten Heim in Münster Gievenbeck, das von seiner Größe her durchaus mit einer Burg hätte mithalten können, vom Baustil allerdings eher mit der sozialistischen Plattenbauweise konkurrierte. Es war eben ein Wohnheim für gemeine Studenten, in dem ich meine letzten beiden Semester zwangsweise verbringen musste.
Im Foyer des Palais öffnete ich meinen Briefkasten, einen von weit über Hunderten, in dem mich ausnahmsweise beide meiner zwei Zeitungen anlächelten. Weiter erfreute mich der Anblick meiner zartgrauen Telefonrechnung. Mit der Post bewaffnet, nahm ich den Anstieg zum fünften Stock in Angriff. Wegen meiner klaustrophilien Bedenken und meiner Gesundheit, die ich entsprechend Churchills Motto "no sports" pflegte, hatte ich es mir abgewöhnt, den sich nicht mehr im jugendlichen Alter präsentierenden Aufzug zu benutzen. Das grün und orange gestrichene Dekor des Treppenhauses erinnerte mich etwas an ein Krankenhaus, und in der Tat fühlte ich mich nach dessen Benutzung meistens ziemlich niedergeschlagen. Ich war immer froh, in dem anzukommen, was ich mein Appartement nannte.
Von diesem trennte mich nach geglücktem Aufstieg ein Flur mit etwa 20 Türen, deren farbliches Design sich dem Grün und Orange des Treppenhauses anglich. Zu meiner Linken wohnte dort eine Silke, die ich innerhalb eines halben Jahres ein einziges Mal gesehen hatte, und zwar im Nachthemd. Meine Schrittgeräusche hatte sie wohl mit denen ihres Freundes verwechselt, der mit einer Brötchentüte in der Hand einige Meter hinter mir war. Einfach reizvoll, wie sie mir etwas verlegen die Tür öffnete! Ihr gegenüber wohnte Miriam, besser Miri, ein bezauberndes Mädchen mit langen roten Haaren. Philosophiestudentin, außerdem Germanistik und einiges mehr. Nebenbei spielte sie am Theater, was mich besonders an ihr faszinierte. Neben ihr, mir direkt gegenüber, war Nikos Appartement. Er hatte geschafft, was mir unmittelbar bevorstand, das Examen in unserem Fachbereich. Zwar nur als BWLer, aber immerhin. Leider hatte ihm das ganze bis auf ein nach zwei Monaten abgebrochenes Traineeprogramm nichts eingebracht. Mit meinen rechtsseitigen Nachbarn hatte ich bescheiden wenig zu tun. Neben mir, wusste ich, lebte eine angehende Zahnmedizinerin, braune Haare und meistens attraktiv gekleidet, ob ihr gegenüber überhaupt jemand wohnte, war mir nicht bekannt.
In meinen fast 15 Quadratmeter großen vier Wänden angekommen, fühlte ich mich richtig zu Hause. Ich zwängte mich zwischen meiner Kücheneinrichtung und meinem Einbauschrank hindurch, schob mich an der Tür zu meiner Nasszelle vorbei, die die Mehrzahl meiner Besucher für eine Schiffstoilette hielten, und stand im Zentrum meines Reiches. Hier war ich umzingelt von einer Regalwand, auf der die Unmengen meiner Bücher lasteten, von zwei Schreibtischen, wie sie in der Inventarliste hießen, und meinem pritschenähnlichen Bett, um das mich wahrscheinlich jeder Häftling beneidet hätte. Weitere essentielle Einrichtungsgegenstände waren mein Telefon, mein Fernseher und meine Hausbar.
Ich entledigte mich meiner Post, tätigte den obligatorischen Blick in dem Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen und überflog die Titelseite der münsterschen Lokalzeitung. Mir wurde dabei klar, dass ich ein weiteres Bier brauchte, um heute überhaupt weiteres tun zu können. Im Kühlschrank standen drei Krombacher griffbereit, von denen eine nun geköpft wurde. Gleich ging es mir besser, und ich begann, die Mitbringsel des Tages aus meiner Tasche zu ziehen. Da war die Visitenkarte dieser Betti, die ich erst einmal beiseite legte, ferner waren da meine beiden Literaturlisten, die es als nächstes zu studieren galt. Es handelte sich um die allgemeine Volkswirtschaftslehre (AVWL) und die Wirtschafts- und Finanzpolitik (Wifipo).
Vor mir befand sich ein enzyklopädisches Sammelsurium von Fachaufsätzen und Lehrbüchern zu diesen Themen, grob geschätzt jeweils 600 bis 800 Seiten geballtes Fachwissen, wovon der Strebsame keine einzige auszulassen hatte. Das bewährte Erfolgskonzept in unserem Fach bestand nämlich in der Kunst, möglichst viel des angegebenen Repertoires auswendig zu lernen, denn das erhöhte die Wahrscheinlichkeit, auf nicht antizipierte Fragen eine Antwort zu finden. Das Fatale war, dass unser Jahrgang als erster in den Genuss einer geänderten Prüfungsordnung gelangte. Zu jedem dieser beiden Prüfungsfächer gehörten ab uns zwei Prüfer, denen es unmöglich war, sich auf eine gemeinsame Literaturabgrenzung zu einigen, was bedeutete, dass sich die 1200 bis 1600 Seiten verdoppeln würden. Dagegen erschienen mir die drohenden 800 Seiten ÖV fast lächerlich.
Die Lage war ernst, aber natürlich nicht hoffnungslos. Im Sommer war mir immerhin die Lösung von zwei Klausuren gelungen, deren Ausgang mir allerdings momentan unbekannt war, da im Prüfungsamt die Sitte herrschte, sich auf die Verkündung von Gesamtergebnissen zu beschränken. Hier fiel mir ein, dass übermorgen die Note meiner Diplomhausarbeit ausgehängt wurde, von der ich bisher nur sicher wusste, bestanden zu haben, da man mir sonst die Anmeldung zu den Klausuren verweigert hätte.
Ich beschloss, Christoph Mattern zwecks Vergleichs der Semesteranfangsimpressionen anzurufen. Eventuell hatte er ja Lust auf ein (weiteres) Bier. Zu meiner Überraschung meldete sich etwas schüchtern eine Andrea Reimann auf schwäbisch. Mir wurde mitgeteilt, dass Herr Mattern an der Uni sei und bis spät abends in der Bibliothek zu tun habe. Ich sagte: "Danke", und legte auf. Mein plötzlich ganz schlechtes Gewissen wurde von der Neugier verdrängt, mit wem ich da gerade gesprochen hatte. Ich erinnerte mich dunkel an Christophs alte Freundin, mit der er vor zwei Monaten in Münster zusammenlebte. Zwei Monate waren natürlich eine lange Zeit, und am Nachmittag bei Bölling war merkwürdigerweise das Thema "Frauen" ausgelassen worden, was meine Spekulationslust enorm anregte.
Trotz aller Ablenkungen meldete sich in mir mein Pflichtbewusstsein, und ich machte mich daran, mein weiteres Vorgehen strategisch zu planen: Morgen würde ich die fehlenden Literaturlisten inklusive der darauf stehenden Werke beschaffen. Mehr konnte ich heute beim besten Willen nicht tun. Also stellte ich meinen Fernseher an und ließ den Abend mit "heute", den "Tagesthemen" und den Klängen von MTV ausklingen.
Dabei lag ich auf meiner Pritsche und resümierte die letzten Tage und Wochen. Meine Gedanken wanderten nach Budapest, zu Tatja, der zierlichen Bedienung der Interdisco "Halligalli", in der ich mich von einem anstrengenden Urlaubstag erholte. Tatja versorgte mich über einen Abend mit Getränken. Nach drei, vielleicht auch erst nach vier Stunden ließ sie sich das erste ausgeben, einen mittelgroßen Pina colada für 17 500 Forint (ungefähr 20 DM). Danach wurde sie richtig nett, wogegen ich nichts einzuwenden hatte, weil ich sie äußerst anziehend fand. Ihr kleiner Busen erschien durch ihr schwarzes Bustier wesentlich größer. Besonders stimulierend fand ich ihren Kugelschreiber, den sie dort jedes Mal hineinschob, wenn sie etwas aufgeschrieben hatte. Zwischen ihrem Oberteil und ihrer Radlerhose, ein Stück ihrer bronzenen Haut und ihr Nabel, irgendwo darüber ein breiter weißer Gürtel, der neonfarben im Scheinwerferlicht leuchtete.
Drei Stunden später saßen wir nebeneinander im Taxi. Vorher hatte ich fast eine halbe Stunde draußen gewartet, bis sie ihre Bar aufgeräumt hatte. Als letzter wollte ich nicht gehen, weil mir das zu auffällig war. Bis wir in meiner abgelegenen Pension ankamen, war es fast hell. Bis dahin wusste ich, dass sie einen schwarzen Slip trug und ohne BH war. Ihr Haar duftete angenehm nach Lavendel und ihre Haut nach einem mir unbekannten, aber dafür sehr erotischen Parfüm. An das, was danach passierte, konnte ich mich kaum erinnern, auf jeden Fall bin ich verhältnismäßig schnell eingeschlafen. Wenigstens wachte ich mittags nicht alleine auf. Der Mensch, der uns weckte, weil mein Auto angeblich in der Einfahrt im Weg stand, schien sich sehr zu amüsieren, was mir aufgrund meiner Kopfschmerzen ziemlich egal war. Unser erstes und letztes gemeinsames Frühstück servierte mein Wirt ausnahmsweise nach 12 Uhr. Er war schließlich auch mal jung, meinte er. Danach fuhr ich Tatja in die Stadt. Urplötzlich wollte sie irgendwo im Nirgendwo aussteigen. Ich habe sie nie wieder gesehen, nicht einmal unsere Adressen hatten wir getauscht.
Zwei Tage zuvor war ich in Prag gewesen. Fast wäre ich meinem Prinzip untreu geworden, mich nicht mit einer Prostituierten einzulassen. Das langhaarige,