Und dennoch ist das Leben schön. Panja Bartsch

Und dennoch ist das Leben schön - Panja Bartsch


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Die Bevölkerung in diesem vermeintlichen Feindesland war genauso Opfer eines barbarischen Regimes wie er selbst.

      Dann war der Alptraum vorbei, Deutschland besiegt und in Trümmern – und Stefan ein freier Mann. Doch wohin sollte er gehen? Zurück in seine von Russen besetzte Heimat? Niemals!

      Er beschloss, noch weitere zwei Jahre als Knecht auf dem Hof auszuharren, zumal ihn der Bauer anflehte, zu bleiben, da das Schicksal seines jüngsten Sohnes noch immer ungewiss sei und er Stefan gegebenenfalls als Erben einsetzen wolle. Auch die Bäuerin hatte den liebenswerten Polenjungen in ihr Herz geschlossen.

      „Ich muss gehe, eigene Weg finde. Dein Sohn Alfred lebe, ich fühle. Du warst wie Vatter für mir. Ich nix kann Hof annehme.“

      Im Frühjahr 1948 packte ihn das große Fernweh. Ein Land wollte neu aufgebaut werden und Stefan seinen Teil dazu beitragen. Dennoch schmerzte ihn der Abschied von jenen Menschen, die ihm über acht Jahre ein Zuhause gegeben hatten. Als Lohn für seine treuen Dienste schenkte ihm der Bauer das Motorrad seines verstorbenen Sohnes. So wurde Stefan mobil.

      Seine Rastlosigkeit trieb ihn quer durch Deutschland. Ob nun Köln, Ludwigshafen, Mannheim, Frankfurt..., Arbeit gab es überall mehr als genug. Als ungelernter Arbeiter heuerte er „am Bau“ an, stets nur auf Zeit, immer auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Schließlich landete er wieder im Westerwald, in einer Gegend, die ihn ungemein an seine Heimat erinnerte. Dort ließ er sich nieder, verliebte sich in eine Bauerntochter, die er dann nach anfänglichen Schwierigkeiten heiraten durfte.

      Das Leben war wieder schön. Seine Frau Thekla schenkte ihm einen Sohn und zwei Töchter. Durch Fleiß und Sparsamkeit gelang es ihm, als einer der Ersten im Dorf ein Häuschen zu bauen. Sein Ansehen wuchs, seine Hilfsbereitschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer; doch wahre Freunde fand er nie.

      Dann kamen die ersten Gastarbeiter ins Land: Italiener, Spanier, später dann Griechen, Türken und so weiter – alles fleißige Kerle, soweit Stefan es zu beurteilen vermochte. Missbilligung wuchs in ihm wie ein Krebsgeschwür, als er hörte, wie viele ab den siebziger Jahren nur in unser Sozialsystem einwanderten. Und Empörung machte sich in ihm breit, als er feststellte, dass einige dieser Immigranten nicht nur an ihren kulturellen Bräuchen festhielten, sondern vor allem die Arbeit scheuten und einst zwar bescheidene, aber dennoch gepflegte Wohnviertel in heruntergekommene Gettos verwandelten. Wie konnten sie es nur wagen? Diese Faulenzer! Sollten froh sein, in diesem Land bleiben zu dürfen! Er, Stefan der Staatenlose, ein menschliches Chamäleon, lebte wie ein Deutscher und kleidete sich wie ein Deutscher. Nur nicht auffallen! Allein sein mangelndes Sprachtalent kennzeichnete ihn als Ausländer. Hoffentlich würde man ihn nicht eines Tages mit all diesen Nichtsnutzigen über einen Kamm scheren! Höchste Zeit also, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen!

      Nie würde er den Tag vergessen, da er mit geschwollener Brust den neuen Pass entgegennahm und verkündete: „Ich seien stolz, Deutscher zu sein!“

      Endlich konnte er reisen, wohin er wollte – und auch seinen Bruder in der Heimat besuchen. Geschockt bis ins Mark musste er feststellen, dass dort die Zeit stehen geblieben schien. Stefan Maronow sah das Elend und die Armut seiner ehemaligen Landsleute und schämte sich. Welch’ vergleichbarer Luxus hatte er in den vergangenen vierzig Jahren erworben; sein Bruder hingegen fegte immer noch die uralten Dielenböden mit einem Reisigbesen. Er wollte helfen, die Not lindern, indem er bei seinen nächsten Besuchen sein Auto total überlud mit Raritäten, die in Deutschland zum Alltag zählten. Doch so sehr er sich auch bemühte, für seine Landsleute blieb er ein Fremder. Vierzig Jahre Abwesenheit waren einfach zu lang. Als sein Bruder starb, verzichtete er auf weitere Besuche in der alten Heimat.

      „Papa, was ist los? Geht es dir nicht gut?“ Nadja hatte sein Minenspiel beobachtet, sein Seufzen vernommen und sorgte sich sehr.

      „Alles gut. Habe nur an früher gedacht, an Polen und so.“

      „Hast du Heimweh?“ fragte sie mitfühlend.

      „Heimweh? Nee! Was meinste, wo ich war daheim letzte sechzig Jahr?“ Stefan lächelte nachsichtig.

      „Aber dich bedrückt doch etwas, Papa!

      „Du mich gefragt wegen Entschädigung?! Mein Antwort: Nein, niemals! Ich mich nie gefühlt als Zwangsarbeiter. Deutschland immer gut zu mir; ganze Dorf hat Kopf hingehalte für mir. Ich kein Schmarotzer, gehe nix bei Staat betteln.“

      „Aber das Geld steht dir doch zu!“ versuchte Nadja ihren Vater zu überzeugen. „Du hast doch eh nur so eine kleine Rente.“

      „Du nix verstehen“, antwortete Stefan traurig. „Ich kann noch so lang hier lebe, kann noch so viel Sauerkraut, Bratwurst und Eisbein esse..., für euch werd' ich immer nur der Pole-Stefan sein. Fahr ich nach Pole’, bin ich für die da drübe’ ein Deutscher.“

      „Papa, das ist doch Unsinn. Du bist in der ganzen Gegend hier hoch angesehen; alle haben dich gern.“

      „Ach ja? Und warum ich wurde nie eingelade auf Grillfest oder Geburtstagsfeier in Nachbarschaft? Oder zum Stammtisch? Nee, Nadja! Bist bald vierzig. Wach auf, werd erwachse! Alle kame nur, wenn sie was wollten, wenn dumme Pole-Stefan billig arbeite soll. Nun bin ich alt und keiner kommt mehr.“ Bitterkeit klang in seiner Stimme mit, als er fortfuhr: „Früher war ich Pole, dann Staatenloser, heute Deutscher. Aber eigentlich ich bin Angehöriger von Niemandsland. Und Niemandsland mir schulde nix.“

      Beschämt blickte Nadja unter sich und verstand. Sie empfand Bewunderung für diesen stolzen Mann, ihren geliebten Vater, der sich sein Leben lang bemüht hatte, dazu zu gehören und in Demut hinnahm, dass er nie seinen Platz finden würde. Sein Heimatland hieß wirklich Niemandsland.

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